von Sebastian Edinger
Unwissenheit ist so wenig wünschenswert wie faule Ausreden, vor allem dann nicht, wenn es um die drängenden Probleme der Zeit geht, in der man lebt. Wenige haben so viel auf so hohem Niveau dafür getan, zentrale Probleme der Gegenwart, wenn auch aus hochgradig parteiisch (und hochgradig parteiischer) amerikanischer Perspektive, zu thematisieren wie David P. Goldman. Seine Bücher You Will Be Assimmilated. China’s Plan to Sino-Form the World (2020) und How Civilizations (And Why Islam is Dying Too) (2011), It’s Not the End of the World, It’s Just the End of You. The Great Extinction of Nations (2011) sowie das kostenlos digital erhältliche How America can lose the Fourth Industrial Revolution (2021) sollte auch in Deutschland jeder lesen, der sich mit elementaren Problemlagen der Gegenwart auf einem hohen Niveau befassen will. Insbesondere, was China angeht (darum geht es erst im dritten Teil dieser Auseinandersetzung mit Goldman), findet sich in Deutschland, jedenfalls unter den medial einflußreichen Stimmen, keine qualitativ gleichwertige Quelle. Nicht nur seine Bücher sind hier zu empfehlen, sondern auch seine fortlaufende Beobachtung und Präsentation von Wirtschaftsdaten auf Twitter/X wie auch seine ebenfalls dort verlinkten regelmäßig zu China erscheinenden Artikel. Darauf werde ich später näher eingehen.
Goldmans Weg in die politische Publizistik verlief alles andere als geradlinig. Über die Musiktheorie, die Germanistik (sowohl die maßgeblichen Quellen der deutschen Philosophie wie der klassischen Literatur sind ihm durchweg im Original vertraut; die deutsche Tagespresse übrigens auch) und die Ökonomie gelangte er in die Politik und arbeitete unter Norman A. Baily im National Security Council in den 1980ern, um später von der Politik in die Wirtschaft zu wechseln, genauer zur Wall Street, wo er für Bear Sterns, Credit Suisse und die Bank of America arbeitete. Die herannahende Wirtschaftskrise von 2008 sah Goldman kommen und verließ vorher, da er die sie induzierenden Mechanismen nur zu gut als Insider verstand und vieles, was er sah, für schlicht kriminell hielt, die Wall Street. Eine Abrechnung mit der Wall Street findet sich in mehreren Passagen in seinem Buch It’s Not the End of the World, It’s Just the End of You. The Great Extinction of Nations, vor allem in den Essays „The End of Leverage“ und, in Form eines Milieuporträts, indirekt in „Admit It, You Really Hate Modern Art“. Bereits 2001 startete Goldman seine „Spengler-“Kolumne; die Wahl des Pseudonyms war nötig, um an der Wall Street kein Aufsehen damit zu erregen, die Lüftung des Schleiers erfolgte 2009, noch bevor Goldman 2013 für die Reorient Group in Hong Kong zu arbeiten begann. Der intime und aus sporadischer Bücherlektüre nicht zu gewinnende Einblick, den er dabei in die Entwicklung und den Aufstieg Chinas gewann, war nachhaltig, seine Publikationen kreisen seitdem immer wieder um das geopolitische Wettrennen zwischen den USA und China und haben ihren lesenswerten Niederschlag in seinem 2020 erschienenen Buch You Will Be Assimmilated. China’s Plan to Sino-Form the World gefunden.
Ich werde zunächst die Grundzüge von Goldmans demographischen Überlegungen skizzieren, die keineswegs trocken demographischer Art oder prima facie Zahlenspiele sind, sondern in eine Kultur- und Gesellschaftstheorie münden, und werde vor allem neuere Entwicklungen und Daten heranziehen, um Goldmans Ergebnisse (die Bücher sind 2011 erschienen) zu diskutieren. Danach werde ich auf sein Buch über China eingehen, das sich entscheidend von vielen anderen Büchern über China abhebt, weil Goldman China nicht als weit entferntes Land oder isolierte Entität betrachtet, sondern zeigt, wie Geopolitik und Technologieentwicklung gerade im Fall Chinas ineinandergreifen und dadurch in ihrer Verschränkung auch eine Überbrückung demographischer Probleme ermöglichen, die andere Länder, z.B. die Westeuropas, jäh ereilen werden.
Goldmans demographische Überlegungen basieren auf zwei Leitsätzen:
(1) Religiosität und Fertilitätsrate korrelieren so stark miteinander, daß Religiosität als demographischem Faktor ein kausaler Rang eingeräumt werden muß, d.h.: Je religiöser ein Gemeinwesen oder Land, desto höher die Fertilitätsrate.
(2) Die Analphabetenrate unter Frauen korreliert mit einer hohen Fertilitätsrate, der Alphabetisierungsgrad der Frauen einer Gesellschaft korreliert negativ mit der Anzahl der von ihnen zur Welt gebrachten Kinder.
Zwischen Religiosität und Alphabetisierung besteht eine gewaltige Korrelation von kausaler Signifikanz, d.h. auch wenn die Korrelation nicht im Sinne einer direkten Kausalität oder gar einer Monokausalität („Alphabetisierung verursacht Geburtenrückgänge“) ausgelegt wird, ist doch klar aufzeigbar, daß eine approximativ durchgehende Alphabetisierung der Gesellschaft nur dort auftritt, wo die Gesellschaft im ganzen sich so entwickelt, daß Geburtenrückgänge zu erwarten sind (einen Hinweis darauf, daß ein Bündel von Faktoren wirksam ist, gibt Goldman auch: „Urbanization, literacy, and openness to the modern world will suppress the Muslim womb“; Goldman 2011a: 283). Goldman veranschaulicht dies an mehreren Beispielen, doch ich beschränke mich hier auf seine Ausführungen zum Iran: „By the mid-1980s, illiterate Iranian women had nearly five children.“ Die Alphabetisierungsrate ist gerade seit den 1980ern massiv angestiegen von rund 35 auf rund 85 Prozent bis 2010 (und seitdem noch weiter): https://www.macrotrends.net/countries/IRN/iran/literacy-rate. Das Resultat: „By 2010 their fertility had dropped to only 1.7 children per female“ (Goldman 2011 b: 10). Das heißt nicht nur, daß der Iran unter die Selbstreproduktionsschwelle gefallen ist, sondern auch, so Goldman, daß bis 2050 die Anzahl der Menschen im Rentenalter von 7 Prozent auf 28 Prozent ansteigen wird. Die Vergreisung findet hier ungleich rasanter statt als etwa in Deutschland und wird die Gesellschaft hart treffen, gerade weil noch andere Krisenfaktoren im Spiel sind, z.B. hohe Auswanderungszahlen aufgrund des politischen Autoritarismus.
Goldman hebt etwas hervor, was unter Demographen und an Demographie Interessierten allzu bekannt ist, aber die breite Öffentlichkeit noch nicht hinreichend erreicht hat: „Across the entire Muslim world, university-educated Muslim women bear children at the same rate as their infecund European counterparts.“ (Ebd.: 6) Was heißt das? Zunächst, daß man auch dann, wenn man eine migrationsfreundliche Haltung vertritt, wird einsehen müssen, daß Migration als Migration in die europäische Moderne auch eine Migration in deren Aporien miteinschließt. Im Klartext: „In Germany, for example, Turkish women had on average two more children apiece than German women in 1970. But by 1996, the gap had narrowed to a one-child advantage for the Turks. Muslim women in Austria bore an average of 3.1 children each in 1981 […] Twenty years later, in 2001, […] Muslim fertility had fallen to 2.3.“ (Ebd.: 43) In Anbetracht dessen, daß muslimische Frauen zunehmend in die Universitäten strömen und daß die diverse islamische „Kernländer“ mittlerweile unter die Reproduktionsschwelle gefallen sind (dazu weiter unten mehr), ist hier eher mit einem langfristigen Rückgang der Fertilitätsraten zu rechnen. Zu bedenken sind auch diese Ergebnisse einer Studie von Stonawski et al.: „This study focuses on Muslim fertility in Europe. Evidence from 25 countries suggests that the Muslim total fertility rate is on average 47% higher than the national level. However, we find a significant difference in the level of fertility of native-born Muslims and immigrant Muslims. The native-born have a 19% higher total fertility rate, while immigrants have 62% higher fertility.“ Um das Entscheidende zu unterstreichen: Setzt man die nativen Fertilitätsraten mit den von vielen Ländern nicht mehr erreichten Zahl 1,6 an, so reichen die 19% Unterschied unter den Muslimen der zweiten Generation nicht aus, um die Fertilitätsrate über die magische Schwelle von 2,1 anzuheben. (Die erwähnte Studie kommt übrigens auch zu dem Goldmans Beobachtungen widersprechenden Ergebnis, daß dem sozioökonomischen Status bei Muslimen ein größeres Gewicht als der Religiosität zukomme. Allerdings ist eine Streitfrage dieser Art so leicht nicht entscheidbar und eine Erwartungshaltung, die nicht auf widersprüchliche Daten gefaßt ist, unrealistisch.)
Nun also zum Verhältnis von Religiosität und Fertilität. Goldmans eigener Ausgangspunkt, der verdeutlicht, daß er nicht den Anspruch erhebt, die Demographie zu revolutionieren, sondern zentrale Ergebnisse derselben durch kultur- und religionstheoretische Überlegungen zu untermauern, ist (dies unterstreicht in Anbetracht der obigen Erwähnung die Uneindeutigkeit der Datenlage): „Dozens of new studies document the link between religious belief and fertility.“ (Goldman 2011b: xv; eine „demographische Zeitenwende“ wurde bereits 2001 von Herwig Birg in Die demographische Zeitende diagnostiziert, allerdings ohne die systematische Reflexion auf Religion/Gläubigkeit als das Geschehen prägende Faktoren) Die Alphabetisierung sollte nicht als separater Faktor angesehen werden, sondern eher von einer triadischen Relation zwischen Religiosität, Fertilität und Alphabetisierung ausgegangen werden; den Zusammenhang stellt Goldman auch selber explizit her: „Most of the variation in birth rates among Muslim countries is explained by a single factor: literacy. Literacy is the threshold that separates traditional society from modernity. The moment Muslims learn to read, family size falls below replacement. Literacy explains about 60 percent of the fertility differential across the Muslim world.“ (Goldman 2011b: 5 f.) Wie kann das sein? Zum einen dadurch, daß die Verbreitung religiöser Inhalte in der muslimischen Welt lange Zeit großteils durch ein Predigen zu Analphabeten stattfand, wie weiter oben am Beispiel des Iran veranschaulicht (weitere Beispiele kann sich jeder ohne weiteres zusammensuchen, ich gebe eines: die Türkei. Die Alphabetisierung ist von 1975 bis 2019 massiv angestiegen: https://www.macrotrends.net/countries/TUR/turkey/literacy-rate, die Fertilitätsrate liegt mittlerweile bei 1,6). Die Zahlen, die Goldman für die Korrelation von Alphabetisiertheit und Moscheebesuch angibt, sind erschlagend: „A third of the 88 percent-literate Turks never attend the mosque, according to the WVS polls, along with a quarter of the 82 percent-literate Iranians (some recent news put mosque attendance in Iran even far lower) – and in both countries fertility is below replacement.“ (Ebd.: 6 f.) Was spricht dann überhaupt dafür, am positiv kausalen Zusammenhang zwischen Religiosität und Fertilität festzuhalten, wenn die Alphabetisierung beide zugleich zermalmen zu können scheint? Goldman zufolge zwei Fälle: die USA und Israel.
Als Goldmans Bücher 2011 erschienen, waren beide Länder die strahlenden Ausnahmen innerhalb der westlichen Welt, die USA haben sich allerdings vom nativen Wachstum just seit Erscheinen seiner Bücher verabschiedet. Goldmans Satz „America stands as an exception to the great extinction of the nations“ (Goldman 2011a: 181) hat sich erübrigt, die demographische Realität seit 2010 sieht so aus: https://data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN?locations=US. Die wirkliche Ausnahme in der westlichen Welt ist Israel: https://www.macrotrends.net/countries/ISR/israel/fertility-rate (schaut man sich die Tabellen genauer an, sieht man aber auch, daß auch die israelische Fertilitätsrate seit 2019 durchgängig fällt, wenn auch auf hohem Niveau und sehr langsam). Zudem muß man die Frage stellen: Wenn – Stand 2010 – die USA und Israel die Ausnahmen sind, bei denen die Alphabetisierung nicht fertilitätszersetzend wirkt, sollte man dann nicht eher den Blick auf deren spezifische religiöse Konfiguration richten? Dann müßte man konkret das Judentum und den Protestantismus in den Fokus rücken, aber mit Blick auf den Protestantismus sogleich fragen, warum er sich in den USA mit einer Fertilität einhergeht, die Europa gänzlich abgeht. Sobald man die Frage stellt, empfiehlt sich „der Protestantismus an sich“ nicht mehr als zentraler Erklärungsgrund.
Ein kleiner Exkurs ist hier nötig zur Frage, ob die Religiosität ein besserer Erklärungsansatz ist als etwa ein anthropologischer. In der Tat hat sich seit Erscheinen von Goldmans Büchern eine Datenlage herausgebildet, die anthropologische bzw. ethnische Ansätze vor große Probleme stellt, denn Deutschland (oder Großbritannien), China (oder Südkorea), die Türkei (oder Saudi-Arabien), Brasilien (oder – mittlerweile – Argentinien) nehmen sich wenig, alle machen mit beim Schrumpfen, wenngleich mit ihren je eigenen Problemlagen vor Ort. In Anbetracht seiner Fertilitätsrate seit den 1990er Jahren ist Rußland militärisch und technologisch geradezu unfaßbar stark, doch im Falle Russlands ist klar, daß man sich nicht lange gegen einen großen Teil der Welt wird behaupten können. Die höchste Fertilitätsrate, die zwischen 2011 und 2021 erreicht worden ist, liegt bei knapp 1,8, seit 2018 wurde die 1,6-Marke nicht mehr erreicht. Der einzige Ausreißer bleiben Teile Afrikas, doch auch hier gibt es regionale Unterschiede (über/unter der Reproduktionsschwelle), die weitere Entwicklung wird hier abzuwarten sein, insbesondere weil die Alphabetisierung in vielen Gebieten extrem schwach ausgeprägt ist (siehe die Tabellen ab S. 67: https://www.cesifo.org/DocDL/cesifo1_wp10029.pdf.
Zurück zu Goldman: Wie erklärt Goldman sich, was er vor 2010 sehen konnte? Er erzählt seinen Lesern eine Geschichte, die man auch als tradierten öffentlichen amerikanischen Selbstkonzeptualisierungskonsens bezeichnen kann, wenn man betont, daß es sich um einen öffentlichen Konsens handelt: „America remains in the eyes of its people an attempt to order a nation according to divine law rather than human custom, such that all who wish to live under divine law may abandon their ethnicity and make themselves Americans.“ (Goldman 2011a: 183) Goldmans These zur Ethnizität als Identitätsfaktor kann hier nicht adäquat diskutiert werden, aber neuere Umfrageergebnisse deuten darauf hin, daß der Bezug zu einem „divine law“ der amerikanischen Bevölkerung rapide abhanden kommt. Damit findet qua Säkularisierung eine – keineswegs im Sinne des Gleichgewordenseins zu verstehende – Angleichung an europäische Verhältnisse statt, die sich jedenfalls mit dieser Stelle nicht gut verträgt: „European states always have been the instruments of an elite; Americans believe that their government is there to defend them against the predation of the powerful.“ (Ebd.: 184) Und Goldman selbst scheint die Verhältnisse neuerdings auch anders beurteilen, wie dieses Beispiel zeigt: „Our elites are stealing the silver spoons from the Titanic 1st Class dining room.“ Damit trifft Goldman allerdings ins Schwarze.
Unabhängig davon, daß die USA sich mittlerweile in einem nahezu ungebremsten und schwerlich noch zu bremsenden Zerfall und Niedergang als Imperium befinden, ist Goldmans Begründung des weitgehend verblichenen amerikanischen Ausnahmestatus lesens- und bedenkenswert, da in der als solche hinfällig gewordenen Kontrastierung mit Europa der lebensfeindliche Nihilismus hedonistischer Massendemokratien hervorragend analysiert wird. Religion ist bei Goldman unauflöslich mit Kultur verflochten, Religionen leben in und durch Kulturen, die sie prägen, ohne sie deterministisch aus sich hervorzubringen; Kulturen sind das Medium des Glaubens, dessen Materialisierung ist der Gang der Generationen, d.h. Tradition und Generation sind Gestalten der immanenten Transzendenz des Glaubens an eine Zukunft im Wollen der Zukunft, die nur eine menschliche ist in der Bejahung der Vergangenheit, ohne die es keine Traditionsbildung und damit keine Identität gibt; in einer Bejahung also, der ihr Woher gegeben und für die ein Wohin imaginierbar ist. Mit Goldmans Worten: „Culture is the stuff of which we weave the hope of immortality – not merely through genetic transmission but through inter-generational communication. In the absence of religious faith, if our culture dies, our hope of transcending mere physical existence dies with it.“ (Goldman 2011b: xxi)
Dieses innerweltliche und die bloße Weltlichkeit zugleich übersteigen wollende Transzendenzverlangen ist gleichermaßen der Kern der Religion wie eine anthropologische Tatsache, weil unsere Glaubensgebundenheit für Goldman eine anthropologische Tatsache ist: „Unlike animals, human beings require more than progeny: We require progeny who remember us. To overcome mortality we create culture, a dialogue among generations that links the dead to the yet unborn.“ (Goldman 2011a: 351) Und was geschieht, wenn diese Kette der Generationen zerbricht? „Individuals trapped in a dying culture live in a twilight world. They embrace death through infertility, concupiscence, and war. A dog will crawl into a hole to die. The members of sick cultures do not anything quite so dramatic, by they cease to have children, dull their senses with alcohol and drugs, become despondent, and too frequently do away with themselves.“ (Goldman 2011b: xxii) Konziser läßt sich die Misere des leerlaufenden Hedonismus kaum beschreiben, der nirgends, gerade auch im Selbstverhältnis selbst, wo genauso nur Angewidertsein und Lieblosigkeit auffindbar sind wie im Verhältnis zur Umgebung, einen Halt findet.
Die grausame Ironie dieses Wegsterbens in dumpfer Sinnlosigkeit, wie wir es in den hedonistischen Massendemokratien des Westens an allen Ecken und Enden beobachten können, besteht in der Einebnung der anthropologischen Differenz durch die Unaufhebbarkeit der anthropologischen Differenz. Anders gesagt: Wenn Menschen, im gesellschaftlichen Maßstab jedenfalls (sehen wir von der Konkretheit von Einzelfällen ab), nur als Menschen und nicht als Vieh existieren können, kollabiert der Gegensatz, wenn der Mensch aufhört, Gegenpol seiner eigenen Tiernatur zu sein: Wo die Transzendenzlosigkeit mit Sinnlosigkeit konvergiert, ist alles egal, und weil alles egal ist, kollabiert die anthropologische Differenz, auch wenn sie phänotypisch oder unserer anthropologischen Anlage nach noch immer besteht, denn es spielt dann keine Rolle mehr spielt, ob wir wie der Hund in einem Loch oder in Discos verenden, es gibt nur noch affektbesetzte Momente ohne ein Danach, das mehr wäre als ein weiterer metaphysisch sinnloser und kulturell folgenloser Moment. Selbst die Nostalgie ist den Europäern abhanden gekommen; sie sind sich so sehr darüber im klaren, nichts Bedeutendes mehr hervorbringen zu können, daß sie sich sogar an den sogenannten Universitäten von bildungsfernen und begabungslosen ideologischen Lobbyisten darauf programmieren lassen, ihre vergleichslosen hochkulturellen Leistungen in einem vorgestanzten, hirnzermarternd hohlen und repetitiven Jargon demonstrativ der Verachtung und sich selbst der Lächerlichkeit preiszugeben. Um den Europäern vor Augen zu halten, wie es um sie steht im Verhältnis dazu, wer sie einmal waren und wozu sie einmal fähig waren, benennt Goldman exemplarisch jemanden als intellektuelle Instanz, der natürlich mittlerweile nicht mehr unter uns weilt: „Europe’s high culture and its capacity to train universal minds had deteriorated beyond repair; one the last truly universal European minds belongs to the octogenarian Pope Benedict XVI.“ (Goldman 2011a: 8)
Alphabetisierung ist also alles andere als ein Alleserklärer, denn sie ermöglichte Aufstieg und Blütezeit des Westens, während die Einwanderung des funktionalen Analphabetismus, verschmolzen mit einem teleologisch in der Herrschaft der Tierchen-Plaisirchen sich manifestierenden Hedonismus, in weite Teile der Gesellschaft und in die sogenannten Universitäten das Gesicht des Zerfalls ist. Wichtiger als die Alphabetisierung ist als Erklärungsfaktor der Zerfall zwischenmenschlicher Beziehungen, die unter allerlei Gedöns über Anerkennung de facto sich vollziehende Reduktion auf Lust und Sexualität, abstrakter: auf den Gebrauchswert anderer fürs temporäre Wohlbehagen und den Spaß. Zum bereits angesprochenen Aufgeben der Menschlichkeit, wie sie sich im uns von Tieren unterscheidenden Kulturprozeß manifestiert, gehört auch die aktive Entmenschlichung, die eine Reduktion auf die ephemere Diesseitigkeit im Verbrauch ist: „Women enter adolescence with the expectation that they will be used but not loved. Men no longer need to feign affection to receive sexual favors; they merely need ask. But human beings are not beasts content with daily fodder and rutting in season. To be sentient is to be sentient of one’s mortality. Sexual objectification leaves women with a foretaste of death, and it should be no surprise that Freud’s program drives women into deadly behavior.“ (Goldman 2011a: 98) In der Flucht nach vorne heißt die Selbstangleichung von Frauen an eine prä-zivilisatorische männliche Sexualität „empowerment“, aber „nach vorne“ heißt hier „gegen die Wand“, denn es gibt weder ein Versprechen noch eine menschliche Sehnsüchte ansprechende Verheißung in diesem Spiel der Tierchen-Plaisirchen. In nichts kommen wir dem „daily fodder and rutting in season“ näher, in nichts können wir uns weniger finden und bejahen, in nichts können wir den Willen zur Bejahung weniger finden.
Goldman sieht klar, daß es sich hier um keinen psychologischen Prozeß handelt, sondern um einen kulturellen, der seine psychologische Seite hat, und daß die Befreiung die Befreiung dazu ist, jenseits jeglicher Mühe und anerkannter Individualität, die sie motiviert, zu finden, was konsumiert und dann weggeworfen werden kann: „Prior to our epoch of sexual liberation, men had to court women – or a culturally similar practice – to mate with them. The desired woman was a princess, the sovereign of the man’s heart: That was the point of the ritual of kneeling and presenting a ring, a holdover of feudal obligation and etiquette.“ (Ebd.: 103) Davon könnten wir nicht weiter entfernt sein und solange dies der Fall ist, ist die einzige Verheißung, die andere Menschen für uns verkörpern können, uns früher oder später zu langweilen oder uns zur Last zu fallen, ohne daß wir uns fragen, ob an unsere ozeanische Hohlheit überhaupt etwas „andocken“ kann. Egal, wieviel Propaganda für einen säkularen Hedonismus und eine psychisch kleinkindlich strukturierte, aber dummerweise mit einem erwachten Geschlechtstrieb verquickte Freiheit aus Mao’schen Lautsprechern ertönt, die Geburtenraten, die Depressionen, die Scheidungen und einiges mehr sagen uns klar, was wir zu bedenken hätten. Ob einige seiner Prognosen sich als falsch (was den demographischen Ausnahmestatus der USA angeht) oder ihre Grundlagen sich als hinfällig erwiesen haben (was die Religiosität der USA angeht), Goldman benennt das Elend des Säkularismus und dessen Bedeutung für eine zivilisatorische Abdikation des Willens zum Leben prägnant und treffend.
Zwei Fragen werde ich im nächsten Text, den ich hier veröffentlichen werde, genauer diskutieren: (1) Wie hängen Demographie und Ökonomie miteinander zusammen? Als hervorragender Kenner in Sachen Ökonomie gibt Goldman für das Verständnis von deren Zusammenhang wichtige Impulse. (2) Wie stellt sich die demographische Lage von Goldmans Theorie her mit Blick auf China dar?
Literatur:
Birg, Herwig (2001): Die demographische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa. München: C.H. Beck.
Goldman, David P. (2011a): How Civilizations Die (and why Islam is dying too). Washington, D.C.: Regnery Pub.
Goldman, David P. (2011b): It’s Not the End of the World, It’s Just the End of You. The Great Extinction of Nations. New York: RVP Publishers.