Mary Harringtons reaktionärer Feminismus. Eine Empfehlung
Exemplarische Reflexwörter, mit denen heute beworfen wird, wer nicht allen Verordnungen der zeitgemäß richtigen Haltung samt Vokabular sich befleißigt, sind „rückwärtsgewandt“ oder „ewiggestrig“. Wer hingegen ein Guter und Braver ist, bringt deshalb noch keinen Fortschritt in die Welt, doch er adaptiert die jeweilige Rhetorik, die nun als die „fortschrittliche“ gilt und fortschrittlich will man sich schließlich auch wähnen dürfen, wenn man doch nichts anderes tut, als in Reih und Glied zu marschieren. Und was gilt als „rückwärtsgewandter“ und „ewiggestriger“, als gegen den Fortschritt und die Fortschrittlichkeit Position zu ziehen, wo doch der Feminismus an der Spitze des Fortschritts marschiert? Ist nicht der Feminismus der Inbegriff des Fortschritts und das Patriarchat dessen ewiggestriger Widerpart?
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Mary Harringtons jüngst erschienenes und bisher nicht ins Deutsche übersetztes Buch Feminism against Progress gibt die Antwort, die im Text selbstbewußt und entschieden entfaltet wird, bereits im Titel. Bevor ich allerdings auf die Kerninhalte des Buches eingehe, möchte ich eine Leistung hervorheben, durch die Harrington sich (gemeinsam mit Louise Perry, deren Buch The Case against the Sexual Revolution jedem empfohlen sei) vom üblichen Feminismus fundamental unterscheidet: Dieses Buch zielt tatsächlich auf einen Feminismus für alle. Harrington gehört zu den wenigen, die das Konzept der indirekten bzw. nicht-intendierten Folgen verstehen, d.h. sie versteht nur allzu gut, daß ein Feminismus, der sich gegen Männer richtet, sich zwangsläufig auch gegen Frauen richten muß. Worum es Harrington geht, ist das „broader project of staying human together, as men and women in the cyborg era“ (Harrington 2023: 20). Das Menschliche, auf das die Geschlechter in ihrer jeweiligen Individuierung desselben verwiesen sind, ist für Harrington ununterbietbar, und wenn es im gesellschaftlichen Maßstab weiterhin unterboten wird, werden die entsprechenden Gesellschaften schlicht verschwinden, denn „the situation is truly desperate“ (ebd.: 222).
Ihren Entwurf eines Feminismus wider den Fortschritt nennt Harrington „reaktionären Feminismus“ (reactionary feminism). Reaktionär kann dieser Feminismus nur dadurch sein, daß er eine verbindliche anthropologische Basis aufweist: „But realising my body isn’t something I’m in but something I am is near the heart of the case for reactionary feminism.“ (Ebd.: 169) Damit liegt Harrington nicht auf der Grundlinie der Argumentation der philosophischen Anthropologie, sondern auch auf der des wenig beachteten feministischen Ansatzes, den Annegret Stopczyk in Sophias Leib – Entfesslung der Weisheit. Ein philosophischer Aufbruch (1998) ausformuliert hat. (Stopczyks Buch ist vermutlich auch deshalb weitgehend unbeachtet geblieben und dem Thea-Dorn-Feminismus ebensowenig wie dem gegenüber aller hochkulturellen Traditionsbildung irrlichternd exorzistischen Gender-Feminismus zu vermitteln, weil sie Mutterschaft nicht als Frauen verstümmelnden Unfall, sondern als eine elementare weibliche Potentialität begreift: „Da ich die Mutterperspektive in meiner Philosophie hervorhebe, ernte ich heftige feministische Kritik, als ob ich dafür wäre, unfreie Mütter am Herd zu glorifizieren.“ - Stopczyk 1998: 369)
Die anthropologischen Grundlagen von Harringtons Buch sind deshalb wichtig, weil die Fortschrittstheologie (Progress Theology) diesen diametral entgegensteht, und zwar nicht im Sinne einer konkurrierenden Ideologie, die sich gegenüber anderen zu bewähren sucht, sondern als etwas, zu dessen Affirmation sie erzogen worden sei: „I was raised to believe in Progress Theology“. (Harrington 2023: 4) Gerade weil das anthropologische Faktum des nur körperleiblich menschenmöglichen Existierens eine uneskamotierbare und unentrinnbare autobiographische Grundlage bildet, ist die Progress Theology als Kern des Zeitgeistes und Organisationsinstanz der auf das Individuum einwirkenden Imperative, Suggestionen und Normen der radikale Widerpart in einer explosiven Konstellation – explosiv deshalb, weil hier elementar formative, aber asymmetrisch verfaßte Kräfte in einer Weise miteinander kollidieren, daß eine Instanz sich die andere radikal unterwerfen muß, um ihre Integrität wahren zu können. Harrington hat nach vielen Jahren des experimentierenden Suchens, in das sie dem Leser mutig Einblick gewährt, die Revision vollzogen, die in dem Buch entfaltet wird: „I am not a believer in Progress Theology“. (Ebd.: 13)
Aber warum nicht? Welche Probleme lassen sich mit ihr nicht lösen, sondern nur verschärfen? Welcher Status kommt ihr überhaupt zu? Begründet sie sich selbst oder ist sie selber nur ein Esel vor einem Karren? Hier an paar Hinweise entlang von Kernbegriffen, in deren Prägung Harrington originell und erfinderisch ist:
Zwei Grundlinien lassen sich in Harringtons Buch ausmachen, deren Konvergenzpunkt die Entmenschlichung von Frauen ist: eine, die auf mehrere Begriffe gebracht wird, deren schillerndste die Cyborgtheokratie (Cyborg Theocracy) und der Biolibertarismus (bio-libertarianism) einerseits und der sexuelle Reaganismus (sexual Reaganism) sind. Die Cyborgtheokratie geht den abstrusen Weg, den Sartre’schen Hyperidealismus, gemäß dem man im Konzentrationslager frei sein kann, wenn man es sein will, ausgerechnet mit den Mitteln des Biolibertarismus zu realisieren mit dem klaren Endziel nicht mehr der Emanzipation – eine solche findet in der Welt statt und muß sich in ihr behaupten –, sondern mit der gänzlichen Loslösung der selbstgewählten Identität von der Natur: „The end-goal of cyborg theocracy is delegitimising the idea that we have a nature“ (ebd.: 141). Der sexuelle Reaganismus realisiert auf seine Weise das Prinzip des Wahnsinns, in der forcierten und wiederholten Anwendung offensichtlich falscher Mittel auf andere und gute Resultate zu hoffen, weil er auf die desaströsen Folgen sexueller Deregulation und normativer Entkernung nur antworten kann mit noch mehr Deregulierung, weil er also glaubt, „the only solution […] to ‚sexual market failure‘ is further competition, deregulation and self-commodification“ (ebd.: 95).
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Der sexuelle Reaganismus wie auch der der Cyborgtheokratie unterstehende Biolibertarismus haben einen traurigen Endpunkt: die blanke Entmenschlichung, und zwar die aller. Aber bleiben wir beim feministischen Aspekt: Am Endpunkt des sexuellen Reaganismus stehen Harrington zufolge Depression und Entwürdigung. Sich zu einer Art der Sexualität im Namen der unbeschränkten Freiheit und des Hedonismus zwingend, die – Harrington breitet (wie Louise Perry) etliche Daten aus – weder mehrheitlich im Grundsatz gewünscht noch zu mehrheitlich gewünschten Folgen führt, werden Frauen allzu oft für Männer zu „human spittoons“ (menschliche Speibecken); Sex kann nicht billig werden, ohne daß die „Teilnehmer“ wertlos, weil zu leicht austauschbar werden (dazu fulminant: Regnerus 2017). Am Ende des Biolibertarismus steht, weil, wie Harrington zurecht sagt, die „institutional power ‚cyborg theocracy‘ (Harrington 2020: 220), die“ alle individuellen und Individuen erwachsenden Machtpotentiale schluckt, nicht die Entwürdigung, sondern die totale Entmenschlichung: „The endgame is the horrors that will follow on our total re-conceptualisation as de-sexed ‘people’, as ‘sex workers’, as ‘lactators’, ‘menstruators’ and ‘gestators’, or simply as ‘donor tissue’.“ (Ebd.: 161)
Spendergewebe (donor tissue) im Biolibertarismus und menschliche Speibecken (human spittoons) im sexuellen Reaganismus – drastischer kann eine Warnung nicht ausfallen, und während die Entwürdigung für viele zur leidvoll erfahrenen und innerhalb des heutigen Westens leicht erfahrbaren Realität geworden ist, hat derjenige, der das Endspiel des biolibertaristischen Horrors für eine „Übertreibung“ statt für eine reale Gefahr und Bedrohung hält, nicht nur diesen, sondern noch nie irgendeinen Schuß gehört und wird auch nie einen hören. (Ein Hinweis zur qua Pornifizierung entwurzelten Sexualität: Chris Hedges hat in seinem Buch mit dem treffenden Titel America. The Farewell Tour am Beispiel der mehr und mehr Bereiche des Sozialen in Beschlag nehmenden Pornoindustrie das Beispiel zu dem gegeben, was Harrington schildert und was die notwendige Quintessenz einer zerfallenden Kultur ist, die Pornographie duldet: „Jollee was also featured in the 2005 JM Productions release Swirlies, in which the male performer dunks the woman’s head into a toilet after sex and flushes. The company promo for the film promises that ‚every whore gets the swirlies treatment. Fuck her, then flush her.‘“ - Hedges 2018: 120)
Dieser Rahmen ist nötig, um zu verstehen, warum Harrington Abtreibung nicht unter dem Gesichtspunkt der Wahlfreiheit betrachtet, sondern als „metaphysical keystone for cyborg theocracy” (Harrington 2023: 169). Dabei stützt Harrington sich auf das biologische Konzept des “fetal microchimerism". Der Begriff bezeichnet die Tatsache, daß DNA eines Babys die Plazenta zu durchqueren vermag und über den Blutkreis in das Gewebe der Mutter mit transformierender Wirkung eindringt, z.B. ins Gehirn und in die Schilddrüse, aber nicht nur in dieselben, und dort auch nach der Geburt noch über Jahre hinweg verbleiben. Es findet also eine weitreichende biologische Transformation der Mutter durch das Baby statt, die weit über eine „Beherbergung“ eines dann in die Welt zu entlassenden Körpers hinausreicht und auch in hormonellen Prozessen sich nicht erschöpft. Abtreibung steht, wo Kontrazeption fehlgeschlagen ist, im Zentrum der Cyborgtheokratie, jedoch nicht als Möglichkeit, die Funktionalität in der Berufswelt zu optimieren, sondern als Möglichkeit, Natur einer menschlichen (in der Entscheidung/Wahl) und technologischen (in der Durchführung der Abtreibung) Revision zu unterwerfen und sie zu entmachten, wo sie sich in unerwünschter Weise bemerkbar macht.
Wo Leben aber in zu beherrschender und unterwerfender Natur aufgeht, setzt sich der Biolibertarismus institutionell über Individuen hinweg durch. Wie? Als staatliches Instrument z.B. im bereits florierenden Organhandel. Harrington geht nicht auf Giorgio Agamben ein, zieht aber auf der Linie von Agambens Analysen liegende Konsequenzen aus der Instrumentalisierung des Lebens unter der normativen Herrschaft des Biolibertarismus und führt folgende Beispiel aus China an: „We see it, too, in emerging evidence of political prisoners killed to order and their organs harvested to service the Chinese transplant industry." (Ebd.: 160) Aber China sei doch nicht Teil des Westens und im Westen sei derartiges unvorstellbar, oder?
Kommen wir also zum europäischen Komplement dessen, Harrington nennt es Austerity Euthanasia, dt. Austeritätseuthanasie. Dieses Konzept greift Harrington zwar nicht in dem Buch auf, aber es ist in ihren journalistischen Texten präsent ist und steht im Zentrum eines voll entfalteten Bioliberatarismus. Austeritätseuthanasie läßt sich mittels wenig anspruchsvollen Klimbims leicht als „liberale“ Ausweitung der Selbstbestimmung durch Hinzufügung weiterer Optionen verkaufen, worauf auch genügend Leute hereinfallen werden, aber worum es wesentlich geht, ist die Beseitigung von Leben, das von Staaten für überflüssig erachtet wird. Um ein paar eigene Hinweise hinzuzufügen: Wer sich noch Illusionen darüber macht, wie weit fortgeschritten die technologische Arbeit an den Voraussetzungen einer möglichst leidlosen Beseitigung von Menschen gediehen ist, der schaue sich die Selbstmordkapseln aus der Schweiz an. Auch ein Blick auf Todesstatistiken aus den sehr atheistischen Niederlanden, wo 5,1% aller Todesfälle im Jahr 2022 solche eines staatlich assistierten Ablebens waren, empfiehlt sich. Der Staat spiegelt den Bürgern ihre empfundene objektive Wertlosigkeit mittels avancierter Selbstbeseitigungstechnologien wider? Ja, aber er gibt ihnen dabei noch einen zynischen Sinnausblick im ganz biolibertaristisch posthumanen Format: Sie könnten schließlich partiell als Spendermaterial (donor tissue) weiterverwendet werden.
Zurück zu Harringtons Buch und einem besonders kontroversen und problematischen Aspekt. Harrington formuliert am Ende des Buches Vorschläge, wie die Geschlechterbeziehungen positiv umgestaltet werden können. Im Zentrum steht dabei ihr Konzept des rewilding sex, also eine Wiederauswilderung der Sexualität, die auch als kompromißlose Renaturalisierung beschrieben werden kann, weil im Mittelpunkt steht, der Pille abzuschwören. Zwei Gründe sind maßgeblich: Gesundheitliche, die zunehmend mehr Aufmerksamkeit erlangen weiblicherseits, und prinzipielle, weil diese Renaturalisierung nur durch eine umgekehrte Kulturalisierung und Vermenschlichung der Sexualität funktionieren kann. Je mehr auf dem Spiel steht und je präsenter die Aussichten auf weitreichende Konsequenzen sind, desto deliberativer und wählerischer muß bzw. sollte mit der Lust verfahren werden.
So nobel Harringtons Position ist, da sie Menschen als diejenigen adressiert, die ihre Sexualität im wahrhaft menschlichen Sinne nicht nur auszuleben, sondern zu gestalten imstande sind, so klar führt die Nobilität der Anspruchshaltung auf enge Grenzen, was den Umfang des realistischen Adressatenkreises angeht. Der Umfang dieses Adressatenkreises lässt sich weder a priori noch aus dem Stegreif bestimmen, aber die Geschichte der Regulierung von Sexualität war mehr als ein „Patriarchalismus“ oder „Paternalismus“ eine – wie auch immer im einzelnen zu bewertende – Reaktion darauf, daß auf eine Gestaltung von Sexualität im Sinne das Ideals menschlicher Personalität in einer auf Melioration angelegten Zivilisation oder Hochkultur stets auf eine ganz anders geartete Realität gestoßen ist als die, die Harrington in ihrem Modell einer „Oberschichtensexualität“ oder „elitären Sexualität“ vor Augen hat. Deshalb möchte ich hier auf eine Diskussion von Harringtons Mitstreiterin Louise Perry mit Diana Fleischman verweisen, in der Perry den tabuisierten und in der nötigen Offenheit und Erwachsenheit nach wie vor nicht thematisierbaren Zusammenhang zwischen IQ und Verhaltenspotentialen offen anspricht: Der Titel des Gesprächs lautet Based Feminism, der relevante Abschnitt „IQ realism & paternalism/noblesse oblige“ ab 1:21:43. So notgedrungen oberflächlich das Thema in der unbotmäßigen Kürze allzu knapper Zeit gestreift wird, hier wird immerhin klar angesprochen, was nicht mehr übergangen werden kann. Harrington hatte diese Problematik nicht auf dem Schirm und müßte damit konfrontiert werden und darauf antworten – dann würde die Diskussion nicht nur in der Sache realistisch geführt werden können, sondern weitere Türen aufgestoßen werden. (Was Perry im Gespräch mit Fleischman anstößt, entfaltet Nathan Cofnas in seinem lesenswerten Artikel Coercive paternalism and the intelligence continuum in einer wegweisenden Weise.)
Was Harringtons Modell neben der allzu gut erwiesenen engen Korrelation zwischen IQ und Verhaltenspotential, ist der Zustand der westlichen Gesellschaften und Kulturen, den sie in ihren journalistischen Texten – meist auf UnHerd – treffend skizziert. Zwei Texte möchte ich exemplarisch kurz vorstellen: The Post-Literate Academy und Welcome to human centipede culture.
Was bedeutet human centipede (Tausendfüßler) culture? Harrington hat dieses allzu zutreffende Bild einem Horrorfilm entlehnt, „in which victims are stitchted together mouth-to-anus, forcing each to consume the excreta of the one in front“. Diese Metapher eines institutionell organisierten und ohne Entkommensmöglichkeit installierten Zwangskonsums von Kot fängt den Übergang von der „verwalteten Welt“ (Adorno) zur unter dem Namen von Kultur und gegebenenfalls im Namen von Kultur verordneten Koprophagie ein. Auf der kulturindustriellen Ebene entspricht dem der Tod der Kreativität und ihre Ersetzung durch eine Produktionslogik, die in der Tat dem von keinerlei Idee begleiteten Ausscheiden näher steht als einem schöpferischen Prozeß: „Of the 40 ‚most anticipated films‘ in 2023, for example, only three were original screenplays. Goldeneye, a classic video game, hast just been relaunched for Switch.“ Steht die Kulturindustrie darin alleine da, den kulturellen Hirntod ostensiv zu verkörpern?
Quelle: https://x.com/moveincircles/status/1599860228262010880
Nein, um die Universitäten steht es keinen Deut besser, wie Harrington in ihrem Artikel The Post-Literate Academy zu zeigen versucht. Post-literate meint hier nicht, daß das Niveau ein wenig absinkt, sondern daß die kulturellen Grundlagen, die sogenannten Kulturtechniken, deren wenigstens halbwegs fortgeschrittene Beherrschung auf dem Weg zur Universität schon verbindlich nachzuweisen wäre, an der Universität selbst nicht mehr vorhanden sind. In die Zukunft projiziert bedeutet dies, „that universities will continue to recruit in large numbers, and that they are doing so in the full knowledge that their students are increasingly post-literate. Video statements could plausibly become video ‚essays‘ on a given topic, or any number of other forms of content creation that are not deep reading and writing“. Auf Video-Essays kommt Harrington zu sprechen, weil ein Schüler ihre nahelegte, TikTok zu nutzen, da Andrew Tate ebenfalls TikTok nutze. Auf den Zustand der Universität übertragen: Auf Andrew Tate wird die akademische Sphäre bald nur noch zu reagieren wissen, indem sie, gänzlich unorganisch und gekünstelt, ihre eigenen Andrew Tates zu produzieren versucht. Damit vollendet sich, was Chris Hedges bereits 2012 in Empire of Illusion. The End of Literacy and the Triumph of Spectacle von links diagnostizierte. Die Universität fügt sich dann der human centipede culture wahrlich nahtlos ein. Um die Lage zugespitzt, aber gewiß nicht übertrieben und Harringtons Diagnose nicht zuwiderlaufend, zusammenzufassen: Zlatko hat immer noch kein Buch gelesen, aber er hat jetzt einen Bachelor. Und wie soll er auch keinen haben? Ohne weitreichende und schmerzhafte Eingriffe in den Zerfall der Universitäten wird er in 10 Jahren einen Ehrendoktortitel tragen.
Vor wenigen Tagen erschien ein Artikel Harringtons mit dem Titel Can pluralism be low-crime?, in dem sie das (auch) in Großbritannien außer Kontrolle geratene Problem der Kriminalität diskutiert. Der Artikel enthält (fast) sämtliche entscheidenden Hinweise, die auch in Deutschland aufzunehmen wären, wenigstens im Modus der andeutenden Benennung. Harringtons persönliche Kurzbeschreibung der Lage, deren reiche anekdotische Ausmalung eine ganze Enzyklopädie füllen könnte, lautet: „Only last week an escaping shoplifter shoved my daughter to the ground while fleeing the local Londis. Police don’t even attend when you report incidents. The area has not seen a decline in prosperty – only in civic orderliness.“ (Harrington lebt nicht in London, wir reden hier also nicht von Großstadtzuständen.) Das „only“ ist ironisch zu verstehen, leitet der das Entscheidende enthaltende Zusatz doch gerade zum eigentlichen Thema ihres Textes über, nämlich zum Problem eines „disintegrating social contract“, dessen Restituierung unmöglich erscheint, da wir in einer „cognitive dissonance“ gefangen sind: „We embrace literal diversity at least in part because we set such stock by pluralism, and so little by shared values.“ Sicherheit als geteilter Wert kann dann nur beschworen, aber nicht wirklich gewollt werden, weil Sicherheit als verbindlich geteilter Wert nur durch eine Homogenisierung von Verhaltensweisen und -einstellungen erreichbar ist. Eine solche Homogenisierung setzt voraus, daß das Überschreiten allgemein anerkannter Grenzen Konsequenzen hat, die mit einem unrestringierten „Just be you“ (Harringtons Beispiel) gegebenenfalls sehr unsanft nicht vereinbar sind. Anders gesagt: Hedonistischer Individualismus und hemmungsloser Wertepluralismus vertragen sich nicht mit dem erforderten polizeilichen Handeln, das allein in der gegenwärtigen Lage – nicht nur Großbritanniens, möchte ich hinzufügen – noch Abhilfe schaffen kann. Gibt es überhaupt noch eine Möglichkeit, Zustände zu beheben, in denen Bürgern geraten wird, sie sollten „themselves form a citizen patrol“?
Hier fehlt das entscheidende Stichwort, das mit Blick auf die sicherheitspolitische Lage und aufgrund der Privatisierung von Sicherheitsgewährleistung Südafrikanisierung lauten müßte. Harringtons gleichwohl treffender Lösungsvorschlag ist nicht gerade der Quantenphysik entnommen, doch in Anbetracht dessen, wie schwer vermittelbar solche simplen Gedanken sind, kann es einem Derartiges Äußernden leicht so vorkommen: „[T]he most direct way of achieving a society that’s both multicultural (albeit unhappily so) and low-crime is through brutally authoritarian policing.“ (Ein legitimes Problem: Die Polizei müßte dann vertrauenswürdig und gänzlich unkorrupt sein, was wiederum ein Wertgefüge voraussetzt, auf dessen Nicht-mehr-Vorhandensein sie einen Teil der Antwort darstellen soll.) Doch Harrington gibt dem Leser mehr als das, was die anti-polizeilich Konditionierten als ewig gleiche Law-and-Order-Phrase abzutun geneigt sein könnten. Sie gibt hier die entscheidenden Stichworte, deren Hintergrund man auch in Deutschland dringend aufarbeiten muß, um Namen als Modelle zu begreifen und von den Modellen zu lernen, wo es nötig ist: Singapur (darum wird es hier noch häufig und ausführlich gehen) und El Salvador (In bildlicher Eindrücklichkeit, die zart Besaiteten wohl eher nicht zuzumuten ist:
; wir rasen auf den Zustand zu, wo es so oder gar nicht mehr gehen wird). Noch wird die adäquate Auseinandersetzung mit beiden Modellen die meisten Westeuropäer auf diversen Ebenen überfordern. Das wird sich allerdings ändern müssen. Harrington weiß dies und arbeitet daran mit, ihre Leser auf diejenige Konfrontation mit der Wirklichkeit vorzubereiten, die noch nicht stattgefunden hat.
Die sukzessive Zlatkoisierung der Universitäten durch ihre zunehmende Übergabe an Aktivisten und Influencer mit der Konsequenz, daß im akademischen Bereich längst nicht-wissenschaftliche Kriterien die entscheidenden sind, sowie eine zivilisatorische Degeneration in die Anarchie hinein, sind zwei Gesichter derselben Medaille. Aber es gibt Stimmen, die sich der kulturellen Verwahrlosung entgegenzustemmen versuchen und deshalb Aufmerksamkeit verdienen. Mary Harrington gehört glücklicherweise dazu. Auch in Deutschland sollte man ihre Texte wahrnehmen.
Literatur:
Mary Harrington (2023): Feminism against Progress. London: Forum.
Chris Hedges (2009): Empire of Illusion. The End of Literacy and the Triumph of Spectacle. New York: Nation Books.
Chris Hedges (2018): America. The Farewell Tour. New York: Simon & Schuster.
Mark Regnerus (2017): Cheap Sex. The Transformation of Men, Marriage, and Monogamy. New York: Oxford University Press.
Annegret Stopczyk (1998): Sophias Leib, Entfesselung der Weisheit: ein philosophischer Aufbruch. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme.