Michael Esfeld, "Land ohne Mut"
Rezension von Alexey Zhavoronkov
Michael Esfeld ist Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Lausanne und Autor zahlreicher prominenter Studien, insbesondere zu naturwissenschaftlichen Fragen. In seinem letzten Buch Land ohne Mut geht es um die Mängel der deutschen Politik angesichts der Corona-Bekämpfung – also um Thema, das einerseits längst erforschungsbedürftig ist, andererseits aber von vielen Politikern und öffentlichen Medien nach wie vor abgewertet und verschwiegen wird. Das durch keine klaren Argumente begründete Verbot, Esfelds Buch bei der Frankfurter Buchmesse zu präsentieren, ist ein deutlicher Beweis dieser dauerhaften Tendenz.
Esfelds Grundintention, seine Meinung als Manifestation von Kants Konzept des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft darzustellen, finde ich sehr willkommen, besonders so in den Zeiten, wenn ein solcher Gebrauch oft beschimpft und als Gefahr für gesellschaftliche Solidarität zurückgewiesen wird. Der Hinweis des Autors auf Kants Vorstellung von aufgeklärter Gesellschaft, in der idealiter jeder Mut haben sollte, seine Meinung öffentlich auszusprechen und in eine öffentliche, die Meinungen Anderer respektierende Debatte einzutreten, ist essentiell für Debatte zur Überwindung der gegenwärtigen Krise des öffentlichen Raums. Denn laut Kants Verständnis des öffentlichen Vernunftgebrauchs sollten Bürger nicht lediglich die sozialen und politischen Ereignisse beobachten und daraus Konsequenzen für ihr eigenes Leben ziehen, geschweige denn sich selbst als Räder der staatlichen Maschine verstehen, sondern primär die Freiheit haben, an den Debatten und Entscheidungen, die die soziale Sphäre betreffen, teilzuhaben. Erst durch die Realisierung solcher Freiheit stellt sich die demokratische Öffentlichkeit her.
Gerade in diesem Sinne finden bei Esfeld auch Kants Konzepte des Republikanismus und des republikanischen Rechtsstaates, in dem die Bürger „in gemeinsamer Beratung über die öffentlichen Angelegenheiten“ entscheiden (S. 102), ihre zentrale Stellung. Sie bilden die Grundlage seiner Kritik an Entscheidungen der Regierung, die nicht aus öffentlicher Debatte, sondern aus einzelnen Expertenmeinungen hervorgehen, also die Meinung einer kleinen Gruppe instrumentalisieren, um die ganze „Gesellschaft zu lenken“ (S. 101). Die Kritik an diesem ‚politischen Szientismus‘, wie Esfeld ihn nennt, steckt übrigens auch hinter den vorsichtigeren Formulierungen zu „Schwachstellen der Politikberatung“ und Abwesenheit einer „politisch unabhängige[n], tragfähige[n] und kompetente[n] Struktur“ im diesjährigen offenen Brief der Wissenschaftler, die zur grundsätzlichen Pandemieaufarbeitung aufrufen. Dass Esfelds Position mit derjenigen vieler Wissenschaftler und Ärzte im Einklang steht, zeigen auch weitere zahlreiche offene Briefe, Artikel und Aussagen.
Umso bedauernswerter ist es, dass Esfeld viele Möglichkeiten einer detaillierteren, mit den Positionen anderer Spezialisten koordinierten Kritik an der Pandemiepolitik verpasst. Ein Grund dafür ist die unkonventionelle Struktur des Buches, dessen größter Teil den historischen Exkursen in die geschichtliche Entwicklung der Wissenschaft sowie der staatlichen Formen und Strukturen (von der Antike durch die europäische Neuzeit bis in die ‚Postmoderne‘) gewidmet ist. Der Vorteil davon ist die Möglichkeit, eine Reihe historischer Vorbilder in das Narrativ über die Mängel der Pandemiepolitik einzugliedern. Die Nachteile sind allerdings nicht weniger gewichtig, denn diese historischen Beispiele werden von Esfeld auf Kosten einer detaillierteren Analyse der wichtigsten Etappen der Entwicklung von deutscher Pandemiepolitik zwischen Anfang 2020 und Frühjahr 2023 verwendet. Eine Untersuchung von Ursachen und Folgen der wichtigsten Entscheidungen auf jeder Etappe, die Esfelds Argumente wesentlich bekräftigen könnte, würde wohl der von ihm gewählten Darstellungsstruktur leider nur im Wege stehen.
Dennoch sollte auch diese Struktur genug Spielraum lassen, um Ansätze anderer Kollegen zu berücksichtigen. So bietet zum Beispiel Esfelds Analyse der staatlichen Auffassung von COVID-19, insbesondere seine Untersuchung ihrer Grundlagen (etwa die Analyse ausgewählter statistischer Daten und Hinweise auf einzelne Dokumente wie die Great Barrington Declaration auf S. 28) die Gelegenheit, eine Brücke zu entsprechenden bioethischen Debatten zu schlagen. Im ersten Schritt wäre die wissenschaftliche Kritik an der einseitigen Ablehnung der Declaration (zugunsten des konkurrierenden John Snow Memorandums) aus Gründen der angeblich mangelnden Wissenschaftlichkeit in Betracht zu ziehen. (In demselben Zug könnten übrigens auch die Gemeinsamkeiten zwischen diesen zwei auf den ersten Blick vollständig entgegengesetzten Stellungnahmen analysiert werden.) In einem weiteren Schritt wäre es möglich, aus einer allgemeineren Perspektive die potentiell effektiveren Maßnahmen unter den Voraussetzungen der Unsicherheit, die durch unstabile, sich ständig verändernde Natur des Virus verursacht wird (welche in den Begründungen politischer Entscheidungen hingegen oft unterschätzt oder durchaus ignoriert wird), zu erwägen. Letztere Verbindung könnte Esfeld helfen, seine Kritik an der späten Reaktion der Regierung auf die gemilderte Pandemielage nach dem Eintreten der Omikron-Variante zusätzlich zu untermauern.
Bei Esfeld finden sich sporadische Erwähnungen der COVID-Politik autoritärer Staaten, vor allem im postsowjetischen Raum (Weißrussland bzw. Belarus auf S. 34 und 98). Allerdings bleiben diese Erwähnungen nur im Modus kleiner Bemerkungen über die Ignoranz bestimmter Regierungen bezüglich wissenschaftlicher Evidenz. Ein tieferer vergleichender Blick auf einzelne Maßnahmen oder wenigstens auf die generelle Richtung staatlicher Strategie der COVID-Bekämpfung ist nicht präsent. Das ist eine weitere verpasste Möglichkeit, denn ein solcher Vergleich der COVID-Maßnahmen in demokratischen und nicht-demokratischen Ländern wäre eigentlich fruchtbar für ein besseres Verständnis über die Gefahren politischer Instrumentalisierung der Pandemie. (In diese Richtung geht etwa der neulich veröffentlichte Sammelband zur Pandemiepolitik in Osteuropa.) Wenn wir etwa das von Esfeld erwähnte Beispiel Weißrusslands beobachten, stellen wir fest, dass die COVID-verleugnende Rhetorik des Präsidenten Lukaschenko mit konkreten staatlichen Maßnahmen nicht übereinstimmt. So wurden am 30. Oktober 2020 harte Einschränkungen eingeführt, die erst im Laufe von 2023 graduell aufgehoben wurden. In Russland wurde die Pandemie hingegen – auch in ihrer Anfangsphase – nicht verleugnet durch die Regierung, zugleich aber (genau wie in Belarus) zur Unterdrückung der damals deutlich spürbaren politischen Proteste in Großstädten verwendet. Für die russische Regierung haben die Pandemiemaßnahmen den Erfolg des rechtlich äußerst fragwürdigen Verfassungsreferendums gesichert. Für die Regierung in Belarus wurden sie zum effektiven Instrument der brutalen Bekämpfung von Massendemonstrationen auf den Straßen. Diese und weitere Beispiele bieten wertvolles Material zum Nachdenken und Vergleichen – außerhalb der engeren Frage nach politischen Haltungen zur wissenschaftlichen Evidenz.
Trotz der erwähnten ‚weißen Flecken‘ ist die Erscheinung des Buches Land ohne Mut aus meiner Sicht ein Meilenstein auf dem langen Wege, der hoffentlich zur tiefen Aufarbeitung der deutschen Pandemiepolitik führen wird. Eine solche Aufarbeitung wäre nötig auch vor dem Hintergrund der breiteren Frage nach Instrumenten politischer Behandlung von Krisensituationen. Dass Esfelds Versuch sowie die ähnlichen Versuche seiner Kollegen nicht erfolglos bleiben, ist allerdings unter den aktuellen Umständen der Krise der Öffentlichkeit, die laut Jürgen Habermas sich der realen Gefahr aussetzt, „funktionslos verrottet“ zu sein (Habermas 2022, S. 103), kaum garantiert. Wenn emotionelle Argumente und Popularität bestimmter Aussagen die Plausibilität wissenschaftlicher Argumente überwiegen, gibt es oft weder Mut noch Lust zum öffentlichen Dialog oder zum sorgfältigen Nachdenken. Dass eine solche Sachlage auch den grundlegenden sozialen und politischen Strukturen dauerhaft schadet, ist zwar schon für viele spürbar. Es dauert aber wohl noch lange, bis dieses Verständnis in einer Wandlung politischer Strategien resultiert.