von Sebastian Edinger
Michael Esfelds Buch Land ohne Mut hat viel Aufmerksamkeit durch eine Skandalisierung erlangt, um die sein Autor sich nicht bemüht hat. Besagter Autor ist Philosoph und Mitglied der Leopoldina. Als Philosoph ist er vor allem durch Arbeiten im Bereich der Wissenschaftstheorie und insbesondere der Philosophie der Physik in Erscheinung getreten, die sich zwar nicht an ein breiteres Publikum richten (können), aber mit seinem neuesten Buch eine tiefere Verbindung aufweisen, als für Laien ersichtlich sein kann. Darauf werde ich weiter unten genauer eingehen, doch zunächst werde ich die Aspekte beleuchten, die für ein breiteres, sofern philosophisch interessiertes, Publikum interessant sein dürften.
Tabubruchregion Zitat
Unabhängig von spezifischen inhaltlichen Positionierungen fällt an Esfelds Buch auf, daß er sich um akademische Konventionen wenig schert. Nicht nur greift er offen die Leopoldina an, der er selber als Mitglied angehört, sondern er zitiert, wo er die Corona-Maßnahmen bewertet, eine Reihe von Autoren, durch deren Zitierung man sich in der heutigen Ausprägung des „Milieus Universität“ (Luhmann) zur persona non grata macht:
„Es gibt keine Fakten, die diese Reaktion als verhältnismäßig erweisen könnten. Das haben im deutschsprachigen Raum unter anderem Gunter Frank (2021), Karina Reiss und Sucharit Bhakdi (2021), Wolfgang Wodarg (2021), Ulrike Guérot (2022) und Stefan Homburg (2022) in ihren Büchern dargelegt.“ (Esfeld 2023: 27)
Die Zitationsfolge liest sich fast wie ein Who’s Who der Verfemten oder Nichtzitierbaren. Brisant ist dies nicht nur, weil Esfeld damit im das Establishment bildende und die veröffentlichte Meinung dominierende kulturlinken Milieu Verrufene zitiert, sondern weil er darüber hinaus in ein Wespennest der akademischen Philosophie sticht, in der Diskussionen darüber geführt werden, wer an Universitäten eingeladen werden dürfe und wer nicht.
Die Einladungsdiskussion und die Zitierpraxis sind miteinander verwoben: Wie den Verlautbarungen einiger Türhüter einer selbsternannten „feine[n] Tischgesellschaft der Universität“ (Loick 2023) zufolge, deren Selbstverständnis bezeichnenderweise mit dem „vulgärliberalen Ansatz“ (ebd.) des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit nichts zu tun haben will und deren Begehren gemäß Personen wie Jordan Peterson, Kathleen Stock (beide Beispiele Loicks), Thilo Sarrazin (siehe die Gießener Kontroverse, exemplarisch Schüttpelz und Schöneckers Apologie) oder, um eine „Skandalliste“ Dieter Schöneckers zu zitieren, „Jörg Baberowski, Günther Beckstein, Eugen Gomringer, Bruno Klauk, Sandra Kostner, Ulrich Kutschera, Hermann von Laer, Bernd Lucke, Axel Meyer, Herfried Münkler, Werner Patzelt, Heiner Rindermann, Susanne Schröter, Ralf Schuler und Rainer Wendt“ (Schönecker 2021: 123) nicht eingeladen werden sollten, so darf man im akademischen Milieu die von Esfeld zitierten Autoren nicht zitieren. Daß Personen wie die genannten nicht zitiert werden dürfen, ist ein Tabu (am ehesten scheint von den Genannten Münkler von einem generellen Bannfluch ausgenommen zu sein), das zwar nirgendwo niedergeschrieben ist, das aber jedem, der in diesem Milieu verkehrt, allzu gut bekannt ist. Man sollte hier jedenfalls keine Affirmation durchblicken lassen und am besten ostensiv Distanz suchen, wenn man bei Suhrkamp, dem publizistischen Karriere-Endziel vieler Geisteswissenschaftler, publizieren will, wo Esfeld ironischerweise mehrere Bücher untergebracht hat, ohne vermutlich weitere dort publiziert sehen zu können.
Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen Zitation und Einladung: Die Zitation ist in stärkerem Maße eine individuelle Angelegenheit, d.h. man zitiert als selbstverantwortlicher Autor, nicht als Repräsentant einer Institution, als welcher man agiert, wenn man jemanden zu Veranstaltungen einlädt, die unter dem Banner einer bestimmten Institution stattfinden. Gleichwohl kann man sich im Milieu, das an einer Institution üblicherweise anzutreffen ist, „unmöglich machen“, wenn man „Zitierfehler“ begeht, womit ich sicherlich keine philologischen Schnitzer meine, sondern die Zitierung „falscher“ Autoren. Esfeld bricht mit den Konventionen und Erwartungshaltungen eines Milieus, das eine extrem restriktive und auf das Beobachten des Zitierverhaltens ausgreifende Türpolitik verfolgt und sich im Modus der Selbstgratulation konzediert, Seriosität und Qualität seien dabei die entscheidenden und handlungsleitenden Kriterien, nicht Homogenität, Clubkonformität und Harmoniesicherung im Milieu. Mit einem bestimmten Verdacht drängt sich die Frage auf, ob Esfeld das Begehren des akademischen Milieus allein mißachtet, um sich der Objektivität in der Sache frei widmen zu können, oder ob er mit solcher Mißachtung wenigstens auch artikulieren will, daß Objektivität und Rücksicht aufs ach so feine und mehr mit sich selbst als mit sonst etwas beschäftigte Milieu sich nicht gut vertragen. Für Loick ist „eine robustere Objektivität“ (Loick 2022) das automatische Resultat „pluralere[r] Perspektiven“ (ebd.), es ist von wissenschaftlicher Relevanz, wer wem am Tisch was über sich und die Welt erzählt. (Zugleich fragt Loick halb larmoyant, halb anklagend: „Warum treffe ich bei Demonstrationen gegen die Zustände in den europäischen Internierungslagern auf Lesbos oder die Kriminalisierung der Seenotrettung so wenige meiner“ Kollegen? – Ja, wieso nicht? Ist die „feine Tischgesellschaft“ für solchen Aktivismus nun zu fein oder nicht fein genug?) Für Esfeld ist Objektivität eine Sache des erkennenden Verhältnisses zum Gegenstand ungeachtet dessen, wer auf dem Feld der geistigen Auseinandersetzung wem und wie vielen gegenübersteht; thematisches Feld und geistiger Horizont sind dann auch ungleich größer als bei einer „Tischgesellschaft“. Darauf werde ich weiter unten genauer eingehen.
Zitierlücken
Esfelds Buch trägt den Untertitel „Eine Anleitung für die Rückkehr zu Wissenschaft und Rechtsordnung“, weshalb umso bemerkenswerter ist, daß gerade die juristischen Aufarbeitungen von Covid nicht einmal erwähnt werden: Weder Udo di Fabio (2021) noch Stephan Rixen/Jens Kersten (2022) noch Hans-Jürgen Papier (2021) werden überhaupt erwähnt, geschweige diskutiert. Erklärbar ist das aus dem Charakter des Buches und seiner Anlage, die sich von seiner über die wissenschaftliche Sphäre hinausreichenden Zielgruppe erklärt. Dennoch hätte Esfelds Position an Robustheit gewonnen, hätte er sie wenigstens in dem Covid selbst geltenden Teil des Buches als Gegenposition beispielsweise zur prinzipiell affirmativen und apologetischen Position Rixens und Kerstens formuliert. Zu bedauern ist auch, daß Esfeld Quellen nicht in das Buch eingearbeitet hat, die er selber anderweitig angeführt hat, z.B. in seinem Aufsatz „Wie der Gebrauch von Wissenschaft die Freiheit unterminiert“, in dem er desaströse Impfergebnisse aus Norwegen diskutiert (siehe Esfeld 2022: 215). Diskussionswürdig wäre auch das in Deutschland meines Wissens viel zu wenig wahrgenommene und alles andere als ungefährliche “Mask Mouth Syndrome”.
Bemerkenswert ist vor allem, daß die so vorzügliche wie vernichtende Kritik, die der Rechtsanwalt Sebastian Lucenti formuliert hat (Teil 1; Teil 2), keine Erwähnung findet, da nicht nur das an Arbeitsverweigerung grenzende Versagen des Bundesverfassungsgerichts darin adäquat auf den Punkt gebracht wird (man achte auf die Verwendung von „obwohl“ und „ungeachtet“ an den entsprechenden Stellen), sondern auch die medizinischen Aspekte des diagnostischen Versagens der Wahrheitsverkünder unter Heranziehung reichhaltigen Quellenmaterials ebenso schlagend dargelegt werden wie die juristischen. Ein Grund dafür, daß Esfeld auf die medizinischen Aspekte bei weitem nicht so ausführlich eingeht, wie dies möglich wäre, ist wohl darin zu sehen, daß Corona bei ihm letztlich lediglich Teil eines Komplexes, sind: „Die Personen, die diese Themen antreiben, sind aber jeweils verschiedene – auch wenn Teile der Gruppe, die das Corona-Regime angetrieben haben, dann auf den Klima- und den Wokeness-Zug aufspringen, und umgekehrt.“ (Esfeld 2023: 57) Die Elemente dieses Komplexes erinnern in funktionaler Hinsicht durchaus an Lidl, BILD und kik in Metz’ und Seeßlens Blödmaschinen (2009), in dem sie als solche und damit als eine Art Verblödungstrias dargestellt werden. Doch diese Verbindung müsste Esfeld selber validieren, so er sie für plausibel erachtet.
Säkularisierung
Im Vorbeigehen sagt Esfeld etwas, das weitaus mehr Eloboration verdienen würde: „In der Neuzeit wird die christliche Idee universeller Menschenrechte säkularisiert: Ihre Begründung hängt nicht mehr von der christlichen Religionslehre ab.“ (Esfeld 2023: 133) Angenommen, dies stimmte: Könnte es sein, daß zwar ihre Begründung innerkulturell nicht mehr von der christlichen Religionslehre abhängt, ihre Vitalität aber durchaus von der kulturellen Vitalität des Christentums? Wischt man diesen Gedanken nicht eilfertig weg, so tun sich explosive Fragen auf, die das Verhältnis zwischen der Säkularisierung und Esfelds Begriff der Postmoderne ergeben, wenn man das Böckenförde-Diktum auf diesen Sachverhalt anwendet.
Das Böckenförde-Diktum lautet: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ (Böckenförde 2007: 8; Herv. i. O.) Auf die zivilisatorische und zivilisationsbildende Rolle des Christentums übertragen: Ist das Christentum nicht wesentlich für die westliche Zivilisation, was die nicht vom säkularisierten Staat garantierbaren Bedingungen für denselben sind? Koinzidiert also, anders gesagt, die sich abzeichnende vollständige Säkularisierung der sich freiheitlich nennenden Staaten nicht gerade mit der Erosion derjenigen Bedingungen, auf die Böckenfördes Diktum mindestens auch abzielen muss? Wer dies verneint, muß alles, was dem Christentum zuzuschlagen ist, dem säkularen Abstraktum und Götzen der „Normativität“ in ihrer spezifischen historischen Entwicklung zuschlagen. Damit würde aber unterschlagen werden, daß Böckenförde nicht „vom Staat“, auch nicht vom „freiheitlichen Staat“, sondern – siehe oben – vom „freiheitliche[n], säkularisierte[n] Staat“ spricht, d.h.: Böckenförde sieht den säkularisierten Staat als abhängig von Bedingungen an, die er nicht garantieren kann, die er also nicht aus differenzloser Säkularität heraus hervorbringen kann. Das Versiegen dieser Quelle ist dann kein Ereignis im Bereich der Vorgeschichte mehr, sondern greift direkt und massiv die Substanz der, um den Bedingungsbegriff stärker zu fassen, überlieferungsgetragenen Grundlagen des Staates qua Absterben der Überlieferung an. Die Überlieferung stirbt, wo der Generationenprozeß zum Erliegen kommt, d.h mit dem Zerfall der Familie. Das Referenzwerk, von dem her diese Problematik sich in mustergültiger Weise entfalten läsßt, wäre Mary Eberstadts How the West Really Lost God (2013).
Esfeld geht auf all das nicht ein und muss es auch nicht, da es nicht auf der Linie seiner Argumentation liegt und ein neues Thema eröffnet hätte, ohne zur Entwicklung seiner Position beizutragen. Doch von diesen Fragen führt ein Weg zurück zu einem zentralen Problem der Postmoderne: Wenn die Postmoderne im Sinne Lyotards als das Ende der großen Erzählungen aufgefasst wird und die diversen kleineren Erzählungen, als die Esfeld Wokeness, Covid und den Klimawandel bezeichnet, sich zu einer Superstruktur von Topoi zusammenfügen, die sowohl eine diskursive Hyperfixierung erzeugen als auch - superkompensatorisch - Unterwerfung erheischen, läßt die Frage sich stellen, ob eine solche Superstruktur nicht als eine Art Gottesersatz fungiert. Wokeness ist ein Klassenphänomen, das nicht überall auftritt, Covid wird länderspezifisch unterschiedlich gehandhabt und tritt in regional differenzierter Intensität auf, doch das Klima betrifft alles menschliche und überhaupt alles irdische Leben, weil es das gesamte Ökosystem des Lebens betrifft. Näher kann man der Schöpfung im Format eines als Herausforderung formulierbaren Problems nicht kommen. Dann würde sich als eigene Frage, die eine Antwort erheischt, unter anderem die folgende auftun: Zeugt nicht von der Omnipermeanz der Säkularisierung, daß die drohende „Klimakatastrophe“ als Überlebensfrage behandelt wird, in der Überleben und Erlösung koinzidieren? Von dem, was die christliche Überlieferung ausmacht, bleibt spirituell nichts mehr übrig; wenn Davos für die Rettung stehen soll, ist diese spirituell so leer, so entmenschlicht und geistig vervieht, daß es keinen Grund gibt, sich um sie zu bemühen. (Auch bei Covid ging es nur ums Überleben, bei Wokeness geht es vollständig gedanken- und bildungsfrei um Macht. Nirgends geht es mehr im anspruchsvollen Sinne um etwas, alles kommt ohne die christliche Überlieferung und ohne etwas aus, das man mit noch so viel Wohlwollen als Philosophie bezeichnen könnte – weshalb man in Davos mit geradezu rührender Naivität und geistiger Unbeholfenheit populärwissenschaftliche Autoren wie Dawkins und Harari als „Philosophen“ vorgeführt bekommt.)
Zwei Probleme, die meine Rückfragen betreffen, können nicht übergangen werden:
1. Wenn eine vollständige Säkularisierung diagnostisch vorausgesetzt wird, wie soll dann von ihr aus ein Weg zurück zu dem führen, was in der vollständigen Säkularisierung gänzlich abhanden gekommen ist?
2. Und wie soll man sich überhaupt eine christliche Restauration vorstellen? Esfelds Forderung ist deutlich begrenzter und dadurch handhabbarer, weil das Institutionengefüge, obzwar kulturell ausgehöhlt, grundsätzlich noch vorhanden ist. Umgekehrt: Würde eine juridische Restauration nicht auch daran scheitern, daß im Böckenförde-Diktum anvisierten Bedingungen mit der vollständigen Säkularisierung unterminiert worden sind? Anders fragt: Fehlt der Kultur nicht der Geist, der nötig ist, damit nicht nur Gesetze vorhanden sind, sondern auch ein Geist der Gesetze lebendig sein kann?
Hiermit soll keineswegs suggeriert werden, daß eine – völlig fiktive – „christliche Renaissance“ als Panazee fungieren könnte. Dies würde voraussetzen, daß es als eine notwendige Bedingung die allein ausschlaggebende wäre. Daß dies nicht der Fall ist, ergibt sich schon daraus, daß die christliche Welt ungleich größer nicht nur als Deutschland, sondern auch als Europa ist. Lateinamerika z.B. war in großen Teilen viel länger christlich als Europa und ist es noch heute, ohne aber je ein dem europäischen vergleichbares Institutionengefüge (z.B. in Recht, Wirtschaft, Bildung) hervorgebracht oder, wo es dem Buchstaben nach auf der Basis einer Adaptation der Fall gewesen sein mag, ein solches erfolgreich kultiviert zu haben. Wenn also eine „christliche Renaissance“, verstanden als wundersame Umkehrung der Säkularisierung, keine Wunder wirken könnte, stellt sich umso mehr die Frage danach, welche weiteren Bedingungen erfüllt sein müßten. Ich kann durchaus eine angeben, deren Erklärung hier nicht erfolgen kann, die aber peu à peu hier nachgereicht werden soll: Europa wird nur als Europa überleben und leben können; danach, daß dies geschieht, sieht es nicht aus.
Real existierende Postmoderne
Esfeld verwendet den Begriff der real existierenden Postmoderne im strikt periodischen Sinne, d.h. er bezeichnet damit eine Epoche, die anhand von Merkmalen identifizierbar ist, welche nicht lediglich „diskursiver“ Art sind, wie dies bei der literarischen oder philosophischen Postmoderne im wesentlichen der Fall ist. Damit gehen Asymmetrien einher, die seine Forderung betreffen: Die Einführung des Fiat-Geldes, die just zu dem Zeitpunkt erfolgte, als vielfältige Innovationspotentiale zu versiegen begannen und die Dekonstruktion des Westens in den Geisteswissenschaften ihren Siegeszug antrat, fällt zeitlich mit der Aushöhlung des Rechtsstaats nicht zusammen. In einer versuchsweisen Datierung der Inauguration der Rechtsstaatzersetzung könnte man für Deutschland den „großen Lauschangriff“ oder generell die Amtszeit Gerhard Schröders ansetzen, worauf mit Angela Merkel der (mehrfach wiedergewählte) freie Fall erfolgte, der nicht beiläufig adäquat abgehandelt werden kann.
Die real existierende Postmoderne vollzieht sich also auf verschiedenen Gebieten in ungleicher Geschwindigkeit, Esfelds Forderung erstreckt sich aber sowohl auf die Rückkehr zum Primat der Realwirtschaft wie zu einem intakten Rechtsstaat – intakt, weil er nicht vollständig abgebaut worden ist, aber sein Zustand arg zu wünschen lässt. Esfelds Zurück wäre ein mehrdimensionales Zurück; grundsätzlich sind solche Forderungen um so schwerer realisierbar, je mehr Gebiete davon simultan betroffen sind. Um einem Taschenspielertrick, dessen öffentlich gut vernehmbare, aber auf dem Feld realer geistiger Auseinandersetzungen zu nichts fähige Minderbemittelte sich gerne bedienen („Sie wollen zurück in die 1990er/1950er“ etc.; so etwas ist kein Element von Argumentieren, sondern bloße neuakademische Unfähigkeitsostension), gleich einen Riegel vorzuschieben: Natürlich fordert Esfeld keine Zeitreise, aber auch nicht weniger als eine umfassende Umkehr. Mit Blick darauf, wie erfolgreich die Hysterisierung der Jüngeren durch „das Klima-Narrativ“ (Esfeld 2023: 87) funktioniert, aber auch angesichts der (absehbar) geradezu slapstickartigen Dauerverfehlung großspurig verkündeter Ambitionen (Stichwort Internetgeschwindigkeit oder die Ambition, in der Wasserstoff-Forschung die weltweite Führerrolle einzunehmen), stellt sich eine demographische Frage, auf die Esfeld nicht eingeht und über die Tacheles zu reden gerade jüngere Gesetzesinitiativen unmöglich machen soll: Sind diejenigen, die man für die von Esfeld geforderte Umkehr bräuchte, in der Alterskohorte 18 bis 50 überhaupt in einem signifikanten Anteil vorhanden? Und sind sie im Altersbereich bis 25 nicht nur nicht vorhanden, sondern mit schmerzlicher Unübersehbarkeit nichtvorhanden? (Nichtvorhanden heißt, daß der Mangel nicht mehr nur ein Fehlen von etwas bedeutet, sondern selber bereits eine positive Qualität angenommen hat.)
Wendet man in der Weise, wie es unexplizit geschehen ist, das Böckenförde-Diktum auf die Demographie Deutschlands an, stellt sich um so nachdrücklicher die Frage, ob es mit Mut überhaupt getan sein können wird. Und drückt sich die „demographischen Zeitenwende“ (Herwirg Birg, 2001; 2004 hat dann Philip Longman mit The Empty Cradle. How Falling Birthrates Threaten World Prosperity and What to do about it eine eindringliche Warnung formuliert, die bisher negativ beantwortet worden ist), die keineswegs nur Deutschland erfaßt hat und über die Diagnose Birgs (für aktuellere prägnante Darstellungen siehe Morland 2019 und 2022) weit hinausreicht (unübergehbar, aber auch, wenn man den obigen Kontext der Namensnennung berücksichtigt, kognitiv unbewältigbar für viel zu viele ist hier: Rindermann 2018), nicht gerade in der von Esfeld monierten Mutlosigkeit aus? Setzt Esfeld so sehr auf den Primat der Institutionen und damit auf die Möglichkeit einer institutionellen Restauration, die nicht in erschütterndem Ausmaße davon abhängig ist, wer die nicht von den hauptsächlichen Jüngern eines „Klima-Narrativs“ erschaffenen und kultivierten Institutionen mit Leben erfüllen soll?
Schlußbemerkung und -frage
Wenn man schon so klar wie Esfeld sieht, daß dem Land der Mut zur Selbstbejahung, zum Wagnis des Nonkonformismus und zum Wagen einer Zukunft fehlt und daß die Sklerotisierung und politische Vereselung der Institutionen eine entscheidende Rolle dabei spielt, wäre es dann nicht konsequent, im nächsten Schritt (Buch?) die Rolle der Universitäten, die gerade (aber nicht nur) in den Geistes- und Sozialwissenschaften sukzessive nurmehr sogenannte sind, genauer in den Blick zu nehmen?
Literatur:
Herwirg Birg (2004): Die demographische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa. München: C.H. Beck.
Ernst-Wolfgang Böckenförde (2007): Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert. München: Carl-Fridrich-Siemens-Stiftung.
Mary Eberstadt (2013): How the West Really Lost God. A New Theory of Secularization. West Conshohocken, PA: Templeton Press.
Michael Esfeld (2023): Land ohne Mut. Eine Anleitung für die Rückkehr zu Wissenschaft und Rechtsordnung. Augsburg : Achgut Edition, 2023
Udo di Fabio (2021): Coronabilanz. Lehrstunde der Demokratie. München: C.H. Beck.
Jens Kersten, Stephan Rixen (2022): Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise. 3. Aufl. München: C.H. Beck.
Philip Longman (2004): The Empty Cradle. How Falling Birthrates Threaten World Prosperity And What To Do About It. New York: Perseus.
Paul Morland (2019): The Human Tide. How Population Shaped the Modern World. New York: Public Affairs.
Paul Morland (2022): Tomorrow’s People. The Future of Humanity in Ten Numbers. London: Picador.
Hans-Jürgen Papier (2021): Freiheit in Gefahr. Warum unsere Freiheitsrechte bedroht sind und wie wir sie schützen können. Unter redaktioneller Mitarbeit von Holger Heiland. München: Wilhelm Heyne Verlag.
Heiner Rindermann (2018): Cognitive Capitalism. Human Capital and the Wellbeing of Nations. Cambridge: Cambridge University Press.