Wer in Deutschland dringend stärker wahrgenommen werden sollte: Louise Perry
von Sebastian Edinger
Louise Perry ist eine überaus kultivierte, Femininität in geradezu kunstvoller Weise verkörpernde klassische Zentristin, die als solche, da sie sich dem politisch-akademisch oktroyierten Linksruck verweigert, zu einer der wichtigsten Stimmen des dezidiert konservativen Lagers geworden ist, ohne eine sogenannte Radikalisierung durchlaufen zu haben. Kaum jemand ist so sehr wie Perry, wenn man sie als Radikale auffassen will, das Resultat einer „Radikalisierung“ durch bloßes Beharren auf dem, was im evolutionären Zeitmaßstab vor einer Minute noch die gesellschaftliche Mitte bestimmte und trug. Ihre Radikalisierung, wenn man von einer solchen sprechen will, ist insofern eine „von außen“, als sie in der Fremdzuschreibung seitens jener erfolgt, die brav mitlaufen. Aber mehr noch: Louise Perry ist eine der vielversprechendsten Intellektuellen in Europa und sollte keineswegs nur in der sogenannten englischsprachigen Welt wahrgenommen werden.
Dieses Porträt gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil stelle ich Perrys Buch The Case Against the Sexual Revolution vor, das allgemeinverständlich geschrieben und, so meine unironisch bescheidene These, wichtiger ist als alles, was der akademische Feminismus in diesem Jahrhundert hervorgebracht hat. Daß noch keine Übersetzung des Buches vorliegt, wirft Fragen darüber auf, was man in der Verlagsbranche noch an internationalen Ereignissen wahrnimmt oder für solche hält. Der zweite Strang von Perry publizistischer Aktivität ist ihr noch junger Podcast Maiden Mother Matriarch, der allerdings schon eine Reihe sehr empfehlenswerter Gespräche enthält, in denen Dinge, die in Deutschland zu wenig wahrgenommen werden, in sehens- und hörenswerter Weise thematisiert werden. Der dritte Strang ist ihre journalistische Arbeit.
Der Grundgedanke von Perrys Buch läßt sich in wenigen Worten umschreiben: Das Versprechen der Befreiung weiblicher Lust in der sexuellen Revolution hat diese Lust Myriaden von Ansprüchen, Beschlagnahmungsversuchen und einer aggressiven Kommodifizierung ausgeliefert. Die Freiheit, die als verordnete Pflicht in einer pornifizierten und hypersexualisierten Welt wird, ist zur Unfreiheit geraten. Man kann fast versucht sein, den Begriff der Landnahme in einer Übertragung auf die sexuelle Revolution in den der Lustnahme überzuführen. Die sexuelle Revolution war eine halbierte, die ihren blinden Fleck nun als ihr Schicksal erfährt: Es gibt keine Befreiung, die nur dem Befreiten zukommt, wenn der soziale Raum, in dem die Freiheit ausgelebt werden kann, mit dem anderen Geschlecht geteilt wird. Anders gesagt: Wenn Frauen nun alles dürfen, dürfen sie das genau in dem Raum, in dem Männer ihr eigenes Wollen als Verlangen artikulieren, dem keine normativen Grenzen in Form von Anstands- oder Sittlichkeitsbarrieren mehr entgegengesetzt sind, denn diese wurden allesamt vom verfemten Patriarchat errichtet. Die Dynamik der Befreiung manifestiert sich erst dann als Dynamik statt als Statik, wenn sie auf die andere Partie des Spiels trifft. Perrys Grundargument lautet, daß die Befreiung die Gestalt einer Auslieferung angenommen hat, und zwar mit der entscheidenden Pointe, daß mit den Schranken auch Schutzwälle niedergerissen worden sind. Wenn Bescheidenheit nicht mehr verlangt wird, kann anderes verlangt werden: An die Stelle der Sexualisierung tritt dann die bloße Pornifizierung.
Perry bezeichnet sich als postliberale Feministin, „a postliberal feminist is just a liberal feminist who has witnessed the reality of male violence up close“ (Perry 2022: 7; Perry arbeitete nach ihrem Studium eine Weile in einem Krisenzentrum für Vergewaltigungsopfer und meint mit Gewalt nichts anderes als Gewalt), fügt aber hinzu, daß sie „liberal“ gerade nicht im Sinne von links versteht, sondern „in fact, far from it“ (ebd.: 8). Dabei stützt Perry sich auf Patrick Deneen und dessen Analyse in After Liberalism, in welchem Buch Deneen – das ist meine Bewertung – eine Dialektik des Liberalismus formuliert, die für den Liberalismus das bietet, was Adorrnos/Horkheimers Dialektik der Aufklärung in luftiger, weil begrifflich unstringenter Weise für die Aufklärung zu bieten beanspruchte. Der Postliberalismus ist das Produkt der Bilanzierung des Liberalismus und seines Vorhabens, menschlich elementare Bindungen aufzulösen (Ideologien bilanzieren sich nicht, sie versuchen sich nur endlos zu perpetuieren; ihre Antwort auf ihr Scheitern ist: Mehr vom Gescheiterten, nur diesmal richtig!), konkret: „the external constraints placed on us by location, family, religion, tradition, and even (and most relevant to feminists) the human body“ (ebd.). Diese Folgen reichen über die sexuelle Revolution weit hinaus, doch Perry bindet sie direkt an diese zurück und formuliert präzise die Fragen, auf die ihr Buch antworten will: „Why do so many women desire a kind of sexual freedom that so obviously serves male interests? What if our bodies and minds aren’t as malleable as we might like to think? What do we lose when we prioritise freedom above all else? And, above all, how should we act, given all this?“ (Ebd.: 10) Wer merkt, daß die sexuelle Liberalisierung weder Frauen noch der Gesellschaft ein Paradies beschert noch sie auf den Weg zu einem solchen geführt hat, und wer zudem die hier zitierten Fragen für triftige hält, der wird Perrys Buch mit großem Gewinn lesen.
Die Topoi, anhand derer Perry ihre Argumentation entwickelt, sind keine esoterischen und ihre Perspektive auf sie erfrischend und lehrreich. Das gilt für ihre Betrachtungen zu Hugh Hefner und Marilyn Monroe, die man gerade mit Blick auf Monroe milde als „entzaubernd“ bezeichnen kann. Auch sexuelle Verhaltensempfehlungen für vermeintlich erwachsene und emanzipierte Frauen aus Magazinen wie Cosmopolitan werden mit Pointen diskutiert, die ich nur schwerlich hier nicht ausbreiten kann, deren Ausbreitung ich mir aber verkneife, weil solche Meisterleistungen dem Leser des Buches vorbehalten bleiben müssen. Zudem scheut Perry in dem Kapitel „Men and Women are Different“ nicht davor zurück, die in der Überschrift enthaltene These in Auseinandersetzung mit verfemtem Material wie Randy Thornhills und Craig T. Palmers Buch A Natural History of Rape zu entwickeln. Diese Andeutungen sollen nur verdeutlichen, daß Perry ihr Thema und ihre Leser viel zu ernst nimmt, um sie mit „Geschlecht ist bloß ein soziales Konstrukt“ und ähnlichen, mehr oder weniger wahrheitsministeriell verordneten nutzlosen Phrasen abzufertigen.
Empfohlen sei auf jeden Fall auch Perrys Podcast Maiden Mother Matriarch, und das von jemandem, der nicht gerade der beste Freund dieses vom Medium Buch ablenkenden Präsentationsformats ist und nur wenige Podcasts verfolgt. Drei Gespräche sind m.E. besonders zu empfehlen:
(1) Das Gespräch mit Jonathan Anomaly, betitelt Designing Supermen, in dem es um die rasanten Entwicklungen im Bereich der Gentechnologie geht, von deren Geschwindigkeit sich in Deutschland vermutlich nicht viele eine hinreichend adäquate Vorstellung machen können. Anomaly ist in diesem Bereich einer der am besten informierten Beobachter, weshalb seine Ausführungen stark anwendungsorientiert und dementsprechend interessant sind für diejenigen, die daran interessiert sind, was sich unterhalb der Oberfläche der bisherigen Realität zusammenbraut. Das Gespräch ist durchaus voraussetzungsreich und am interessantesten für diejenigen, die von polygenic scoring und genomweiter Assoziationsanalyse schon etwas gehört haben oder Bücher wie Robert Plomins Blueprint. How Our DNA Makes Us Who We are gelesen haben. Eine gute Hinführung bietet der von Anomly mitverfaßte Artikel Embryo Selection: Healthy Babies vs. Bad Arguments. (Erläuterung: Es ist mittlerweile möglich, genomweite Assoziierungsmuster gleichsam kartographisch zu erfassen und diesen Eigenschaften wie Körpergröße und Intelligenz zuzuordnen, und zwar mit rapide zunehmender Genauigkeit und Verläßlichkeit, so daß absehbar ist, daß in ein paar Jahren eine erstaunlich genaue Embryoselektion im Hinblick auf Intelligenz möglich sein wird. Ob der Environmentalismus unwahr oder doch haltbar sei, wird nicht diskutiert, sondern die absehbare lebenspraktische und politische Bedeutung dessen, was außerhalb der Vorstellungswelt von genetischen Egalitaristen und Intelligenzforschungsanalphabeten liegt.)
(2) Das Gespräch mit dem Demographen Paul Morland, betitelt Tomorrow’s People, das denjenigen, die darüber noch keine Bücher gelesen haben, eine schnelle Orientierung über globale Trends ermöglicht und Laien immerhin die Bedeutung demographischer Erwägungen verdeutlichen sollte. Zur Sprache kommt mit vielen Beispielen, die Morland gibt, vor allem die Universalität von demographischen Übergangsmustern, die bis vor kurzem für spezifisch westliche gehalten wurden, aber auch die Erosion von für sicher gehaltenen Mustern (z.B. was das Verhältnis zwischen Einkommen/Reichtum und Fertilität angeht). – Wer diesem Gespräch etwas abgewinnen kann, sollte sich dann auch Perrys Gespräch mit Simone Collins anhören.
(3) Das Gespräch mit Rana Mitter (Oxford University), betitelt Feminism in China, das Einblicke in die gesellschaftliche Situation in China bietet, die man in diesem Detailliertheitsgrad in deutschen Medien wohl kaum geboten bekommt. Auch hier behält Perry die größeren Zusammenhänge im Blick, d.h. das Thema wird in verschiedenen Varianten (die Veränderung des Heiratsmarktes im Verhältnis zur ökonomischen Entwicklung, die Ein-Kind-Politik) auch unter demographischen und geopolitischen (die ohnehin eng miteinander verflochten sind) und nicht nur strikt innergesellschaftlichen Aspekten diskutiert.
Zudem möchte ich noch drei journalistische Texte Perrys zur Lektüre empfehlen:
Perrys Artikel Women and Children First ist eine Antwort auf Bryan Caplans Buch Don’t Be a Feminist. Dieser Artikel ist von einem Realitätssinn getragen, wie man ihn heute kaum noch irgendwo findet, und so gut, daß man ihn nur empfehlen, aber nicht zusammenfassen sollte. Um wenigstens eine Andeutung zu geben: Perry entfaltet ihre Argumentation entlang des Begriffs des Status und zeigt, daß es verschiedene Statusspiele (status games) gibt, die von verschiedenartig orientierten Frauen in verschiedener, aber doch je spezifischer Weise gespielt werden. Dabei richtet Perry ihren Blick vor allem darauf, welche Statusspiele nur von einer kleinen, medial zu Statthaltern des weiblichen Geschlechts selbst verklärten Frauen gespielt werden, dafür aber mit umso größerer Medienwirksamkeit, öffentlicher Sichtbarkeit und allzu spürbarer Verbissenheit, und welche Lebensentwürfe von diesem Minderheiteneskapismus aus entwertet und mit einem niedrigen Status versehen werden. Perrys Realitätssinn spiegelt sich diagnostisch darin wider, daß sie weder grundlegende Geschlechterdifferenzen übersieht, noch mißversteht, worin diese gründen und was dies wiederum dafür bedeutet, wie das andere Geschlecht, diesmal das männliche, liberal-feministische Statusspiele wahrnimmt und bewertet.
In ihrem Artikel über Leihmutterschaften, Womb Service: The Moral Dangers of Surrogacy, betrachtet Perry das Problem entlang der Frage, was überhaupt Mutterschaft bedeute und was eine Mutter-Kind-Beziehung ausmache. Diese Beziehung nennt sie „the foundational human relationship“ und kritisiert, daß hier aufgrund der Bedürfnisse Vermögender eine rasch wachsende Industrie entsteht, die diese Beziehung mißachtet und unterminiert, zugleich aber ausbeutet. Mit ihrer Engelsgeduld erinnert Perry ihre Leser ganz unpolemisch an Dinge, an die niemand zu erinnern werden brauchen sollte: „The child born to a mere ‚gestational‘ mother comes into the world composed entirely of matter produced by her body, and craving her touch, voice and smell – the only things a newborn baby knows.“ Auch auf den „fetal microchimerism“, die anhaltende symbiotische Modifikation der Mutter durch das Kind, die kein Konstrukt ist, kommt Perry dabei sprechen. Um einen „bloß natürlichen“ Vorgang handelt es sich ebensowenig; Perry zitiert hier treffend Mary Harringtons Satz: „Pregnancy doesn’t just create a baby, it creates a mother.“ Auf dem Verstehen dieses Satzes, das nicht stattfindet, wo „Mutter“ als bloß natürliche Kategorie aufgefaßt wird, basiert der Unterschied zwischen Zivilisation und Barbarei maßgeblich. Wie in ihrem Buch, so pointiert Perry auch hier durch Kontrastierung, welche zivilisatorische Gunst Kindern vorenthalten wird, in deren Genuß noch Hunde kommen, solange sie nicht Gesetzen unterworfen sind, die Ausdruck von Verwilderung und Vertrotteltheit sind „In the UK it is illegal for a dog breeder to permanently separate a puppy from its mother if it is under eight weeks old.“ Vor dem Hintergrund der Erosion von Wissen derart basaler Natur schreibt Perry solche Texte, doch zum Glück schreibt sie sie.
Modernity is making you sterile ist ein weiterer Artikel, der eines von Perrys Kernthemen zum Gegenstand hat: den demographischen Zerfall der Länder, die an der Moderne erfolgreich partizipieren und bei denen es sich keineswegs nur um westliche Länder handelt; China, Südkorea und Japan befinden sich in der gleichen gefährlichen Lage. Die zentrale These des Artikels lautet demzufolge: „[M]odernity selects systematically against itself.“ Perry weist noch auf zwei Sachverhalte hin: (1) daß nur noch 3 Prozent der Weltbevölkerung in Ländern mit einer Fertilitätsrate leben, die oberhalb der Selbstreproduktionsschwelle liegt (dieser These kann hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden, aber das wird in anderen Texten nachgeholt werden); (2) daß – dies wird ausdrücklich mit Blick auf den Klimawandel angeführt – „[d]emographic imbalance may well represent the greatest threat to the long-term stability of Britain, and indeed the rest of the world“. Perry geht als Realistin unter Träumern fest davon aus, daß sie im bisherigen Renteneintrittsalter keinen Cent mehr vom Staat sehen und das Rentensystem nicht mehr existieren wird (30:20 f.). Perry, das Konzept der unintendierten bzw. indirekten Folgen verstehend, weiß natürlich auch, daß Migration nichts lösen kann, was bereits 97% der Weltbevölkerung erfaßt hat (siehe das oben erwähnte Gespräch mit Paul Morland), gerade auch deshalb nicht, weil Migranten, die nicht „innerhalb der Moderne“ den Ort wechseln (z.B. von England nach Frankreich), sondern in die Moderne hineinemigrieren (z.B. von Syrien nach Westeuropa), sich langfristig dieser Gesetzmäßigkeit der Moderne anpassen, statt sich ihr zu entziehen. Um Perrys Thesen durch Daten aus eigener Recherche zu untermauern: Die Fertilitätsrate Südamerikas ist mittlerweile vollständig auf 1,9 (Minimalwert des Bevölkerungswachstums liegt bei 2,1) abgesunken, wie ein aktueller und kostenlos herunterladbare Report von Ius Laboris zeigt (Titel: Declining birth rates: impact on employment). Sogar Saudi-Arabien, sicherlich kein Bannerträger der Moderne, aber immens von ihr betroffen, zieht hier mit: Die Fertilitätsrate ist von 2005 bis 2016 kontinuierlich von 3,4 auf 2,5 gefallen und wird in aktuellen Datensätzen auf 1,92 taxiert. Perrys Artikel belegt die These, die sich komplementär zur am Anfang dieses Abschnitts genannten verhält: „This [die demographische Problemlage, S.E.] is the most urgent political problem of our times and almost no one is talking about it.“
Glücklicherweise ändert sich das, wenn auch nur äußerst langsam, und Perry selbst spielt dabei eine wichtige Rolle. Ob die Wahrnehmung des Problems auch die nötigen Folgen haben wird, ist eine ganz andere Frage.
Eine weitreichende Wahrnehmung Perrys in Deutschland wäre nicht nur zu begrüßen aufgrund der Qualität ihrer Arbeiten, sondern auch aufgrund ihrer breiten thematischen Aufstellung und ihres hervorragenden Blicks für die wirklich drängenden Themen und Fragestellungen, ob es sich um Fragen der Demographie, die Entchristianisierung des Westens oder die Auswirkungen aktueller biotechnologischer Entwicklungen auf die gesellschaftliche Entwicklungen handelt.
Literatur:
Perry, Louise (2022): The Case Against the Sexual Revolution. A New Guide to Sex in the 21st Century. London: Polity.