Der Fall Harvard. Über die unheilvolle Koexistenz dreier Klubprinzipien und die Konfliktlinien eines Kulturkampfes
von Sebastian Edinger
Beim Fall Harvard gibt es mehr zu sehen, als es vordergründig den Anschein haben mag. Die Überschrift verzichtet nicht ohne Grund auf die Erwähnung Claudine Gays, die allzu sehr in das Zentrum einer Auseinandersetzung gerückt ist, in der es um viel grundlegenderes geht. Würde es hier wirklich nur um eine Person gehen, die Sache wäre kaum der Rede wert und in etwa das akademische Äquivalent von Berichterstattungen über Taylor Swift. Worum es hingegen geht, wie ich hier zeigen möchte, ist die auch für westeuropäische Gesellschaften überaus wichtige Grundsatzfrage, wie das amerikanische Bildungssystem aufgestellt sein soll, wie Leistungsfähigkeit festgestellt und als macht-, prestige- und berufschancenbestimmendes distributives Regulativ wirken soll. Diese Frage entsteht in keinem Vakuum, sondern in der simultanen Koexistenz und dem Widerstreit dreier Klubprinzipien, die nach 1945 eine immense Wirkmächtigkeit erlangt haben: das (1) das aristokratische Klubprinzip, (2) das Prinzip der demokratischen Meritokratie oder meritokratische Klubprinzip, und (3) das identitätspolitische Prinzip oder DEI-Klubprinzip. Ohne die dezidierte Beachtung von (1) und (2) als zentralen Entwicklungen in Bildungssystem und Gesellschaft seit den 1960er Jahren läßt sich nicht verstehen, wogegen die vom Supreme Court vor kurzem kassierte Affirmative-Action-Richtlinie in Stellung gebracht wurde und worauf nun durch (3) der Gegenschlag erfolgt. Ich beschränke mich hier, von wenigen einleitenden Bemerkungen abgesehen, hauptsächlich auf die Entwicklung nach 1945, fokussiere mich auf Harvard und werde auch auf den SAT näher eingehen.
Wer den geschichtlichen Verlauf dieser Auseinandersetzung verstehen will, dem sei die Lektüre das Buch Education and Politics at Harvard (1975) von Seymour Martin Lipset und David Riesman nahegelegt, das nicht veraltet ist, was die für die heutige Lage relevanten Weichenstellungen angeht. In dem Buch wird der gesamte Entwicklungsgang von der Gründung 1636 durch calvinistische Puritaner über die religiöse Liberalisierung im Laufe der Jahrhunderte bis zur meritokratischen Kaderschmiede nach 1945 vorgestellt. Aus der Geschichte Harvards vor 1945 ist hier eine Episode erwähnenswert, da sie die Entwicklungen seit 1945 mitkonfiguriert und als expliziter Bezugspunkt in der meritokratischen Mobilmachung und Abschließung der Nachkriegszeit dient: Um den US-Präsidenten Andrew Jackson (im Amt 1829 – 1837) formierte sich eine als „Jacksonians“ (Jacksonianer) bekanntgewordene Gruppe, die die Rekrutierungspraxis Harvards massiv angriff, weil sie Harvard für eine illegitimerweise elitistische Institution (im Sinne des aristokratischen Klubprinzips) hielten: „The Jacksonian Democrats on the Board of Overseers and in the legislature increasingly attacked the University as an elitist institution during the 1840s.“ (Lipset/Riesman 1975: 73)
Jahrzehnte der fatalen Konditionierungsarbeit, wie sie unter dem Namen der „Demokratisierung“ stattfand, machen diese Passage für heutige Leser unverständlich. Wie kann man Harvard als elitistische Institution angreifen? Was soll Harvard sonst sein? Prestigeträchtiger Leuchtturm der amerikanischen Universitätslandschaft und auch für Studenten, die zwar gut, aber nicht exzellent sind, zugänglich? Der Schlüssel zur Beantwortung der Frage ist die Unterscheidung zwischen einer aristokratischen und einer meritokratischen Variante der Demokratie. Die Demokraten rund um Jackson attackierten unter dem Schlagwort „elitistisch“ die aristokratische Version der Demokratie. In dieser Sichtweise ist Harvard dann ein Klub, der eine Universität zu sein hätte und eine Universität dann wäre, wenn er Studenten strikt meritokratisch statt aristokratisch auswählte. Anders gesagt: Der meritokratische Angriff auf die Aristokratie war keiner auf die Meritokratie zugunsten der Demokratie, wie „Demokratisierung“ im neueren Verständnis (als Nivellierung nach unten) nahelegt, sondern auf das herrschende aristokratische Klubprinzip, dem das eigentlich meritokratische Prinzip als das eigentlich demokratische Prinzip gegenübergestellt wurde. (Zur Unterscheidung zwischen democratic und aristocratic democracy, siehe Lipset/Riesman 1975: 289 f.) Über den Demokraten Bancroft heißt es bei Lipset/Riesman deshalb: „His main complaint about Harvard was that it failed ‚to take students on the basis of merit alone‘, that less qualified students were able to enter because they could afford to attend.“ (Ebd.: 74)
Diese Unterscheidung zwischen aristokratischer und meritokratischer Selektion bestimmt die Auseinandersetzung in den USA bis heute fundamental. Der vom Harvard-Präsidenten James Bryant Conant 1946 herausgegebene Band General Education in a Free Society. Report of the Harvard Committee versucht unter dem Eindruck zweier Weltkriege eine meritokratische Grundposition mit humboldtianisch-humanistischen Maßgaben auszustatten. So heißt es im Report in expliziter Abgrenzung von den Jacksonianern: „Our point here is that there is need for a more complete democracy in both these senses not only between student and student but between subject and subject and teacher and teacher.“ (Conant 1946: 27) Die einfache Übersetzung wäre: Wir brauchen eine den gesamten akademischen Bereich bestimmende demokratische Kultur, die humanistisch orientiert ist, statt sich in einem bloßen Leistungsregime zu erschöpfen. Das zeigt sich auch am Intelligenzbegriff, mit dem der Report operiert.
Intelligenz wird hier nicht als eigenständige Größe aufgefaßt, die Menschen unabhängig von ihrer Lebensführung auszeichnet, sondern noch, von der Kenntnis der philosophischen Tradition beeinflußt, dem Vernunftbegriff unterstellt: „Intelligence is that leaven of awareness and reflection which, operating upon the native powers of men, raises them from the animal level and makes them truly human. By reason we man, not an activity apart, but rational guidance of all human activity. Thus the fruit of education is intelligence in action.“ (Ebd.: 75) Von der bloßen Überführung der SAT-Resultate in Abschlußzeugnisse ist hier keine Spur vorhanden; Intelligenz kann sich hier nicht auf dem Boden akademischer Prüfungen bewähren, sondern verhilft Menschen dazu, sich im Medium von Bildungsaneignung im eigentlichen Sinne zu personalisieren, um diese Qualitäten gesellschaftlich fruchtbar werden zu lassen.
Das klingt humanistisch solide, doch der Report zeigt auch, daß die akademische Gemeinschaft vom meritokratischen Leistungsprinzip längst erfaßt und durchdrungen war. Die Ambivalenz wird vor allem darin sichtbar, daß Intelligenz gerade nicht ausschließlich humanistisch, d.h. holistisch, interpretiert wird, sondern – unter dem Druck des Erfolgs der Intelligenzforschung – sehr wohl auch im testpsychologischen Sinn verstanden wird: „Colleges which reach below the top quarter in I.Q. either have somewhat lower standards or have consciously or unconsciously created new types of courses for the less gifted. Intelligence is thus one ground of differentiation.“ (Ebd.: 84) An der Testpsychologie führte bei allem Bemühen um ein humanistisches Verständnis von Demokratie im Angesicht des Zweiten Weltkrieges kein Weg mehr vorbei, und das Leistungsregime, und damit der SAT, trat in der Tat einen fulminanten Siegeszug an. Der SAT (Scholastic Achievement Test) wurde 1926 eingeführt, doch erst nach 1945 in einer hochgradig selektiven Weise in Anschlag gebracht. Zu beachten ist, daß der Einfluß des College Boards, das sich ein Jahr nach Erscheinen des Berichts reorganisierte, erst in den 1950ern das gesamte Bildungssystem zu durchdringen und den SAT zum maßgeblichen Selektionsinstrument zu erheben begann (vgl. Schudson 1972: 61 f.).
Vorab zur Orientierung, was die SAT-Ergebnisse angeht:
Quelle: https://blog.prepscholar.com/sat-percentiles-and-score-rankings
Eine sorgfältige Aufarbeitung dieses Siegeszugs des SAT haben Charles Murray und Richard Herrnstein (beide Harvard-Absolventen) in The Bell Curve. Intelligence and Class Structure in American Life (1994) vorgelegt. Hier gilt die Formel „Von 1952 zu 1960“, denn in diesem Zeitraum wurde die studentische Auswahl Harvards auf der Basis eines harten SAT-Regimes grundlegend verschärft: „In eight years, Harvard had been transformed from a school of primarily for the northeastern socioeconomic elite into a school populated by the brightest of the bright, drawn from all over the country.“ (Herrnstein/Murray 1994: 30) Doch was heißt “Verschärfung” hier im einzelnen?
Zur weiteren Verdeutlichung dessen, daß das Klubprinzip auch nach 1945 noch ein Fortleben genoß, aber dann vom meritokratischen Leistungsprinzip weitgehend, aber – wie noch zu zeigen sein wird – keineswegs vollständig verdrängt wurde: 1952 wurden in Harvard 2 von 3 und 90% der Bewerber, deren Väter (damals nahezu ausschließlich) Absolventen waren, zum Studium zugelassen. Das durchschnittliche verbale SAT-Ergebnis lag bei 583 (von 800) Punkten. Der durchschnittliche SAT-Wert von Zugelassenen am Albion College liegt heute bei 582. Sie haben vom Albion College nie gehört? Nun, ich auch nicht. 1960, nach einer radikalen meritokratischen Wende, wenn man die Zulassungsbeschränkung auf eine Auswahl aus den besten 5% der SAT-Absolventen als solche verstehen will, lag der durchschnittliche verbale SAT-Wert bei 678, der mathematische bei 695 (vgl. Murray/Herrnstein 1994: 30). – Hier soll im Dienste der Entmythologisierung nicht unerwähnt bleiben, daß entgegen der Mythologisierung mathematischer Fähigkeiten, die meist mit der Annahme einhergeht, Lesen und Schreiben auf hohem Niveau wären nicht äußerst (!) seltene Fähigkeiten, Mathematik aber nur den seltensten und erlesensten Geistern zugänglich sei, die Spitzengruppe im verbalen Bereich kleiner ist als im mathematischen. Dies gilt noch immer, auch nach mehreren Überarbeitungen des SAT: So schafften es 2022 8% im verbalen Bereich in die Spitzengruppe von 700 – 800 Punkten, im mathematischen Bereich aber 10%. In einem Text aus dem Jahr 1989, als der SAT noch wesentlich anspruchsvoller war als heute, da er seitdem zweimal im Sinne der Senkung der Ansprüche reformiert wurde, heißt es gar: „An interesting note is that while 11 percent had math scores over 700, only one percent had verbal scores above 700.“ Obwohl Sprache doch so viel einfacher ist!
Doch das Erwähnte war nur der Anfang, die Selektion verschärfte sich mit der Zeit gewaltig. Man kann durchaus von einer meritokratischen Transformation des Klubprinzipis sprechen, wenn man sich anschaut, wie eine kleine Gruppe von Universitäten die SAT-Spitzengruppe gezielt absorbierte: „Just these ten schools – Harvard, Yale, Stanford, University of Pennsylvania, Princeton, Brown, University of California at Berkeley, Cornell, Dartmouth, and Columbia – soaked up 31 percent of the nation’s students who scored in the 700s on the SAT-Verbal. Harvard and Yale alone, enrolling just 2,900 freshmen – roughly 1 out of every 400 freshmen – accounted for 10 percent.“ (Herrnstein/Murray 1994: 43) In The Meritocracy Trap (2019) zeichnet Daniel Markovits, Professor an der Yale Law School (Absolventen der Harvard und Yale Law School sind am Supreme Court deutlich überrepräsentiert), ein aktualisiertes Lagebild: Der durchschnittliche Student der Yale Law School hat nur Einsen und liegt beim LSAT, einem SAT für Juristen, der übrigens der einzige noch von Mensa als IQ-Test-Äquivalent anerkannte Universitätseingangstest ist, im besten Prozent (99-Perzentil; „The median student at Yale Law School, for example, earned effectively straight As in college […] and scored above the 99th percentile in the LSAT.“, Markovits 2019: 142) Mehr noch: Der durchschnittliche Student von Harvard, Princeton, Yale und Stanford – „The Big Four“ – schneidet besser als 95% aller SAT-Teilnehmer ab, und ein Viertel der Studenten dieser Universitäten besser als 99%. („The median SAT scores among students at Harvard, Princeton, Stanford, and Yale now all lie above the 95th percentile, and of the students have SATs above the 99th percentile.“, ebd.: 114)
Doch Markovits (wie auch Michael Sandel in The Tyranny of Merit, 2020) geht es nicht um eine statistische Lagebeschreibung, sondern um einen Frontalangriff auf ein aus dem Ruder gelaufenes Prinzip. Während in The Bell Curve der kognitive Aspekt und das Verhältnis zwischen SAT und IQ im Hinblick auf die soziale Stratifikation der Gesellschaft die Hauptrolle spielten, greifen Markovits und Sandel die Transformierung des meritokratischen Prinzips zu einem neuen Klubprinzip an und nehmen die Korrelation zwischen Testergebnissen und ökonomischen Herkunftsverhältnissen ins Visier. So stellt Markovits heraus, daß an den Ivy-League-Universitäten (Brown, Columbia, Cornell, Dartmouth, Harvard, UPenn, Princeton, Yale), Stanford, der Universität Chicago, dem MIT und der Duke University mehr Studenten aus dem wohlhabendsten einen Prozent der Bevölkerung kommen als aus der gesamten unteren Hälfte der Bevölkerung. („More distressingly still, across the Ivy League, the University of Chicago, Stanford, MIT, and Duke, more students come from families in the top 1 percent of the income distribution than from the entire bottom half.“; Markovits 2019: 137) Auch Michael Sandel exponiert diesen Sachverhalt, indem er darauf hinweist, daß 2/3 der Studenten der Ivy-League-Universitäten aus dem Top-20%-Einkommensbereich kommen und in Princeton und Yale gar mehr Studenten aus dem Top-1% als aus der unteren Einkommenshälfte des gesamten Landes kommen. („Given all this, it is not surprising that more than two-thirds of students at Ivy League schools come from the top 20 percent of the income scale; at Princeton and Yale, more students come from the top 1 percent than from the entire bottom 60 percent of the country.“; Sandel 2020: 10 f.)
Affirmative Action als Programm sowie alle neueren Diversity-Initiativen sind Antworten darauf, daß sowohl die aristokratische als auch die demokratische Variante von Meritokratie zu einer Klubbildung geführt haben. Das Band zwischen beiden ist die hohe Korrelation zwischen Einkommen und Testkompetenz, in einer breiteren Fassung: zwischen Einkommen und IQ. Die Ersetzung des aristokratischen durch das demokratische Prinzip führt zu einer sozioökonomischen Aristokratisierung auf Umwegen, vor allem auf dem Heiratsmarkt, und letztlich zu einem sehr ähnlichen Ergebnis. Auf die Regalreihen füllende Literatur zum Verhältnis zwischen Einkommen und IQ kann ich hier nicht eingehen, ohne diesen Text zu zerreißen, werde dies aber in späteren Texten nachholen. Worum es nun geht, ist die Verzahnung des Gesagten mit dem Fall Claudine Gay.
Claudine Gay steht nicht für den Bruch mit dem Klubprinzip, sondern für einen dritten Klub. An den früheren Elite-Universitäten in ihrer heutigen Gestalt (ko-)existieren allerdings drei Klubprinzipien parallel:
(1) Das alte Klubprinzip, repräsentiert durch die sogenannten Legacy Admissions (in der deutschen Übersetzung von Michael Sandels The Tyranny of Merit mit „Vermächtnis-Zulassungen“ übersetzt). – Man halte sich fest: „43 percent of Harvard’s white students are affiliated with Harvard’s alumni, faculty, or donors.” (Xu 2021: 66)
(2) Das meritokratische Klubprinzip, das auf SAT-Ergebnissen basiert. (Ins Extrem bzw. in den salto mortale getrieben, führt dieses Prinzip zu dem Gesellschaftsmodell, das Michael Young in The Rise of the Meritocracy 1870 – 2033 skizziert; Young 1958)1
(3) Das DEI-Klubprinzip, das auf ethnischer Identität basiert (und gezielt gegen Weiße/Europäer diskriminiert).
(3) ähnelt kurioserweise gerade (1), da beide Prinzipien auf unterschiedliche Weise identitätsbasiert sind, während (2) beiden radikal entgegengesetzt ist. Wo zwischen (2) und (3) keine Indifferenz herrscht, existiert ein Verhältnis von Feindseligkeit oder Verachtung. Der Widerstand, der sich gegen Claudine Gay formierte, beruht darauf, daß nun herkömmlicherweise der Rechten zugeordnete Intellektuelle (Steven Pinker, Amy Wax – in den verlinkten Texten können diejenigen einiges über die Lage lernen, die sich nicht von intellektuell drittklassigen Social-Media-Heroes, seien diese auch Regierungsmitglieder oder Suhrkampautoren, vorgeben lassen, was sie wie zu sehen haben) oder anderweitig öffentlich einflußreiche und deshalb deutlich vernehmbare Personen (z.B. Bill Ackman, auch Christopher Rufo, der zu sehr Aktivist ist, um als Intellektueller anerkannt werden zu können), für die (1) und (2) wenigstens koexistenzfähig sind, gegen (3) rebelllieren, weil sie der Ansicht sind, daß (3) für die Unterminierung von allem steht, was Elite-Universität (in radikaleren Fällen: überhaupt Universität) genannt zu werden verdient. In welchem Zustand beklagenswerter Unwissenheit man diesbezüglich in Deutschland ist, zeigt sich zuverlässig und schlagend daran, daß man zwar allerlei Geschwafel, das die amerikanische Campus-Linke in den sogenannten sozialen Medien verbreitet, sofort aufgreift und so ahnungs- wie gedankenlos brav nachplappert, aber eine der treibenden Kräfte der Klage, die zum Supreme-Court-Urteil gegen Affirmative Action geführt hat, Kenny Xu, genauso wenig kennt wie sein lesenswertes Buch mit dem Titel An Inconvenient Minority. The Attack on Asian America Excellecnce and the Fight for Meritocracy (Xu 2021; ein Kapitel des Buches trägt den Titel „Harvard is rotting“). (Noch ein Hinweis für deutsche Leser: Die Aufarbeitung dieses Falls hatte auf Substack längst begonnen, bevor die Plagiatsvorwürfe einer breiteren Öffentlichkeit überhaupt bekannt waren, siehe Christopher Brunets The Curious Case of Claudine Gay vom 17.04.2022. Man sollte dieses – natürlich keineswegs nur – so manches qualitativ Hochwertiges enthaltende alternative Ökosystem entdecken, wenn man nicht von der extremen Informationsdürre abhängig sein will, für die die Mainstream-Medien stehen.)
Um zur Abrundung zur strikten Deskription zurückzukehren: Der Streit um Claudine Gay ist ein Streit darum, nach welchen Leitlinien ein Kreis prestigeträchtiger Universitäten Personalentscheidungen grundsätzlich treffen sollte. Der Tenor der personalisierten Argumente lautet in etwa so wie in Peter de Quineys Artikel It’s Not OK To Be Claudine Gay: Harvard’s President Resigns, wo darauf hingewiesen wird, daß Summers „published more in the year 1987 than Gay has published in her entire life.“ Der allerdings maßgebliche, ungleich wichtigere und weitere Debatten nicht nur über die Universitäten vermutlich entscheidend präformierende Text, der das Problem der Meritokratie sowohl mit Blick auf die Universitäten als auch im Hinblick auf Gesamtarchitektur moderner Gesellschaften verhandelt und millionenfach angeklickt worden ist, ist Harold Robertsons wegweisender, kaum zu überschätzender Essay Complex systems won’t survive the competence crisis. Robertson zeigt darin auf, daß die Frage „Meritokratie – ja oder nein?“ keine Geschmacks- oder harmlose Haltungs-, sondern eine Überlebensfrage ist. Geschmacksfragen lassen sich klubpräferentiell einhegen und können erst in Komfortzonen eine scheinbare Gewichtigkeit erlangen, bei Überlebensfragen ist dies nicht möglich. Der Text bildet insofern die entscheidende Brücke zwischen dem meritokratischen Testregime und dem Fall Gay, weil letztere in den Augen ihrer Kritiker ein prominentes Symptom der Kompetenzkrise ist, die als notwendige Folge der Unterwanderung, Aushöhlung und Aufhebung des testbasierten meritokratischen Regimes aufgefaßt wird. D.h. Gay wurde zum Feindbild, weil sie symbolisch für zwei Feindbilder zugleich steht: die Zerstörung der Meritokratie im ganzen und – als maßgeblicher Treiber und spezifischer Grund derselben – Affirmative Action.
Die rechte, konservative oder schlicht meritokratische Rebellion gegen DEI als dritte Säule der Rekrutierung in prestigeträchtigen Berufsfeldern allgemein reicht über die Verteidigung des alten Klubs (1), gegen den sich DEI (3) richtet, weit hinaus. Es handelt sich nicht mehr um einen inneridentitätspolitischen Streit, in dem eine – in extremer Zuspitzung – „WASP-Identität“ (1) einer diversen Identität (3) gegenübersteht, sondern um einen Streit darum, welchen Selektionsprinzipien in leistungsabhängigen Sektoren eine moderne Gesellschaft kompromißlos folgen muß, wenn sie
1. überleben, d.h. die zentralen, ihren Bestand sichernden Errungenschaften sichern und erhalten will; und
2. sich weiterentwickeln, d.h. ihre historisch gewachsene Identität kultivieren will.
Das meritokratische Argument erregt deshalb so viel Abwehr und provoziert so viel Feindseligkeit, weil einige seiner entschiedensten Verfechter der Ansicht sind, daß die Weiterentwicklung und Kultivierung der Grundlagen moderner Gesellschaften eine conditio sine qua non kennt, bei der es sich nicht primär um kulturelle Überlieferung handelt, sondern primär um die Pflege der demographischen Identität und der demographischen Träger dieser historisch gewachsenen Identität und kulturellen Überlieferung, weil nur diese dazu in der Lage seien, Überleben, Weiterentwicklung und Kultivierung zu garantieren. Da dieses Argument, entgegen den Behauptungen der DEI-Fraktion, nur selten von Rassisten vertreten wird, schließt es doch diejenigen mit ein, die keine Europäer (vgl. Murray 2021) sind, sondern Asiaten. Kenny Xus Buch wird man deshalb nur um so mehr totzuschweigen versuchen und in Deutschland ganz sicher nicht willkommen heißen. Denn eine vollausgebildete und erfolgreiche Rebellion von (1) und vor allem (2), da (2) polyethnisch formiert wäre, gegen (3) würde bedeuten, daß die USA sich entlang der SAT-Ergebnisse spalten würden und das Bildungssystem eine leistungsmessungsbasierte Segregation erführe. Gegenüberstehen würden sich eine hauptsächlich europäisch-asiatische „SAT-Oberschicht“ mit sehr wenigen Latinos und noch viel weniger Schwarzen und der Rest. Dieser Kampf wird in den nächsten Jahren vermutlich ausgetragen werden, und der Fall Claudine Gay könnte einen Markstein der Formierung der Frontlinien und des Kampfes bilden.
Literatur:
Conant, James Bryant (1946): General Education in a Free Society. Report of the Harvard Committee. Cambridge, MA: Harvard University Press.
Dreitzel, Hans-Peter (1962): Elitebegriff und Sozialstruktur. Eine soziologische Begriffsanalyse. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag.
Herrnstein, Richard J./Murray, Charles (1994): The Bell Curve. Intelligence and Class Structure in American Life. New York: The Free Press.
Lipset, Seymour Martin/Riesman, David (1975): Education and Politics at Harvard. Two Essays Prepared for The Carnegie Commission on Higher Education. New York: McGraw-Hill Book Company.
Markovits, Daniel (2019): The Meritocracy Trap. New York: Penguin Press.
Murray, Charles (2021): Facing Reality. Two Truths about Race in America. London, New York: Encounter.
Sandel, Michael S. (2020): The Tyranny of Merit. What’s Become of the Common Good? New York: Farrar, Straus and Giroux.
Schudson, Michael (1972): Organizing the ‚Meritocracy‘. A History of the College Entrance Examination Board. In: Harvard Educational Review, Vol. 42, No. 1, February 1972.
Young, Michael (1958): The Rise of the Meritocracy 1870 – 2033. An Essay on Education and Equality. Bristol: Penguin Books.
Xu, Kenny (2021): An Inconvenient Minority. The Attack on Asian American Excellence and the Fight for Meritocracy. New York: Diversion.
Heutzutage ist es üblich, auf Youngs Buch als auf eine beklemmende „Dystopie“ Bezug zu nehmen. Hans-Peter Dreitzel – der Hinweis kann nicht ausbleiben, weil sich hierin zeigt, daß die Einschätzungen innerhalb weniger Jahrzehnte sich verändern können, als wäre das selbe Land plötzlich von einer anderen Spezies bewohnt – bewertete Youngs Buch in seinem 1962 erschienen Buch Elitebegriff und Sozialstruktur noch merklich anders: „Die von Michael Young in der amüsanten Fabel ‚The Rise of the Meritocracy' avisierte Herrschaft einer Meritokratie, deren Legitimität sich aus hohem Intelligenzquotienten und intensiver Fachausbildung herleitet, bleibt also eine Utopie.“ (Dreitzel 1962: 99)