Esther Bockwyt: Woke. Psychologie eines Kulturkampfs
Von Sebastian Edinger
Die Psychologie ist in den letzten Jahren außerhalb ihrer Fachgrenzen vor allem durch das Problem der Bestätigungs- und Replikationskrise bekanntgeworden, was sich zu einem nicht geringen Anteil inzestuöser Rekrutierung verdankt: Wenn Psychologen ihre Experimente mit Psychologiestudenten durchführen, hat man Probanden für die Studien schnell gefunden, auch wenn man sich nur innerhalb einer eng und notwendig auf Selbstbespiegelung hin präselektierten Gruppe umschaut. Einer solchen Disziplin würde man wenig zutrauen, wenn es um die Diagnose gesellschaftlicher Schieflagen und der ihnen zugrunde liegenden Probleme geht – und das um so weniger, als die Untersuchung eines Kulturkampfes erfordert, daß das Psychologische nicht in der Psyche, sondern – wie der Begriff es sagt – in der Kultur (bzw. der Gesellschaft) aufgefunden werden muß. Umgekehrt ist, was in der Psychologie wahrlich sich bewährt hat, gesellschaftlich verhaßt und tabuisiert: die Intelligenzforschung, mit der auch Psychologen äußerst selten öffentlich etwas zu tun haben wollen, obwohl sie, wenn ihre Abschlüsse nicht nur auf dem Papier existieren sollen, genau wissen müssen, was es mit der Validität und Reliabilität ihrer Ergebnisse auf sich hat.
Zudem sind Abwehrhaltungen gegen eine psychologische Durchleuchtung von Verhaltensdefiziten und -pathologien nicht nur gesellschaftlich weit verbreitet, gerade an den neueren Massenuniversitäten (wenn es ja ein Oxymoron gab…) ist darüber hinaus auch noch ein zu Abwehrzwecken einsetzbarer Jargon vorhanden. Das Kernwort ist leider das unselige, nur noch unter Ächzen und Stöhnen verwendbare Wort „Komplexität“, das sich der größten Beliebtheit gerade bei denjenigen erfreut, die allzu offensichtlich zu keiner nennenswerten Komplexitätsbewältigung fähig sind. Kulturkämpfe sind per se zu komplex, als daß die Psychologie hier genügend vorzubringen imstande sein könnte. In einer stärker marxistisch zugerichteten Fassung bringt der Jargon dann als Gemeinplatz z.B. hervor, daß das Bewußtsein in einer solchen diagnostischen Anmaßung sich über die gesellschaftlichen Verhältnisse erhebe, deren Ausdruck es sei (oder von denen es lediglich ausgespuckt werde).
Wer akademischen Jargon mit intellektueller Potenz verwechselt, kann Bockwyt leicht unterschätzen; die Neigung dazu dürfte besonders verbreitet sein bei denjenigen, die hier aufs ideengeschichtliche Terrain auszuweichen versuchen, als ließen ihre Kerngedanken sich durch – meist ohnehin hohle – (Halbleser-)Protzerei auf dem Felde entkräften. Der Leser wird direkt im Vorwort wie in einem offenen Brief adressiert, die wissenschaftliche Form, der die Autorin sicherlich Genüge leisten könnte, wird verworfen. Zentrale Grundsätze werden unbeschwert im Idiom großmütterlicher Lebensweisheiten formuliert, z.B. der öfter in verschiedenen Varianten angeführte Satz „Die Dosis macht das Gift“ (mindestens Bockwyt 2024: 81, 132, 148, 164). Die pharmakologisch-physiologische Metaphorik kann leicht darüber hinwegtäuschen, daß weitreichende anthropologische Grundannahmen dieselbe fundamentieren. Das möchte ich im folgenden etwas genauer beleuchten, da Bockwyt die philosophischen und anthropologischen Bezüge ihrer Überlegungen psychologisch ausformuliert, diese Bezüge manifest vorhanden und aufweisbar sind. Anders gesagt: Ich stelle konkrete Bezüge her, über deren Existenz Bockwyt sich in abstracto im klaren ist, denn daß gerade im Anthropologischen die Psychologie und die Philosophie sich treffen, weiß sie auch: „Diese Fragen sind letztlich psychologische Fragen. Sie fragen nach der psychischen Beschaffenheit des Menschen und nach den Wirkungen der politischen Mittel auf die Menschen in ihrer psychischen und körperlichen Verfassung. Deshalb führen sie immer wieder zur Psychologie oder zur Philosophie zurück.“ (Ebd.: 103; allerdings befremdet eine Formulierung wie „dem Philosophen Andreas Reckwitz“, ebd.: 121, doch erheblich.)
Das Spezifische, Wokeness, ist im Verhältnis zum Universalen, der menschlichen Psyche, zu sehen. Bockwyt antezipiert, was mittlerweile, da die Rechte groß genug geworden ist, um ähnliche Herdenphänomene mit weitreichender Sichtbarkeit auszubilden, teilweise „woke right“ genannt wird (und amüsanterweise Rechte für eine Mischung aus Crybaby-Verhalten und zensorial gesinnter, die normativen Verhaltenspotentiale Erwachsener unterbietender Engstirnigkeit aufs Korn nimmt). Die spezifische „Leistung“ der Wokeness im Bereich der ideologischen Imagination und der Zieldefinition besteht darin, das jeweils für sich Unlebbare und miteinander maximal Unvereinbare in einer kleinkindhaft reflexionsarmen Synthese miteinander zu versöhnen, also in einer “Art Bullerbü in stereotypem Takt“ bei gleichzeitiger „radikale[r] Dekonstruktion und Veränderung all dessen […], was Menschen Halt gibt“ (ebd.: 157). Schauen wir uns den anthropologischen Cocktail genauer an, der einen zu solchen Absurditäten verleiten kann.
Zum Universalen bzw. Anthropologischen: „In uns allen sind woke psychische Mechanismen angelegt und zudem durch Sozialisation mehr oder weniger stark etabliert. Narzissmus und Histrionie beispielsweise sind keine Pathologien, sondern normale menschliche Psychologien.“ (Ebd.: 104) Zu den psychologischen Grundeigenschaften, die hier merkwürdigerweise „Psychologien“ genannt werden, zählt die Aggression, die Bockwyt in dem Buch ebenfalls ausführlich behandelt. Die Aggression wird von Bockwyt keineswegs verdammt, sondern als eine Grundenergie, die es ermöglicht, proaktiv in die Welt einzutreten und mit ihr in Kontakt zu treten, vielmehr begrüßt: „Aggression ist daher im gesunden Maße auch Ausdruck der wichtigen Fähigkeit zur Selbstbehauptung.“ (Ebd.: 137) Was mit Aggression gemeint ist, ist die Grundenergie, die nötig ist, um aktiv mit Welt und Mitwelt in Kontakt zu treten und produktiv in sie einzutreten.
Aggression, wie sie allerdings die Wokeness kennzeichnet, äußert sich in etlichen Verhaltensweisen, die Bockwyt behandelt: „Degradierung“ (ebd.: 149), „aggressive Einschüchterung“ (ebd.: 151), Versuche, „unliebsame Kritiker auf sozialen Netzwerken sperren zu lassen“ (ebd.: 141), „Anprangerungen“ (ebd.: 142), „Beleidigungen und Bedrohungen“ (ebd.: 149). Nichts davon ist nicht universal, aber nichts davon findet in einer Rhetorik der sozialen Gerechtigkeit seinen natürlichen Verbündeten, die den Narzißmus befeuert, der der Aggression ihre Richtung gibt: Erst der Narzißmus leitet die Aggression zum konkreten Verhalten an, und eine nötige Reaktion auf solches kann darin bestehen, die Aggression abwehren zu müssen und damit den Narzißmus durch Verletzung zu befeuern. In welcher Weise aggressives Verhalten erlernt, d.h. kanalisiert und zivilisiert wird, hängt davon ab, inwieweit der Narzißmus in der Individuation als Aufgabe gemeistert wird.
Hier korrespondieren Bockwyts Ausführungen weitreichend mit der Philosophie Helmuth Plessners – so weitreichend, daß man sagen kann, Bockwyts Buch stelle genau 100 Jahre später eine Reaktualisierung von Plessners Grenzen der Gemeinschaft dar. Um dies zu erläutern:
Individuation zur Person (im Unterschied zum bloßen Menschen) vollzieht sich Plessner zufolge im Rollenspiel, im Zentrum der philosophischen Anthropologie steht deshalb der „Rollenbegriff, dem das Doppelgängertum privat-öffentlich zugrunde“ (Plessner 1985: 231) liegt.1 Das existenziale Medium dieses privat-öffentlichen Doppelgängertums ist Unaufhebbarkeit und Ausgleichsbedürftigkeit von Leibsein und Körperhaben: „Der Zwang zum Ausgleich seines körper-leiblichen Doppelaspekts ist die Wiege des Handelns, dem sich der Mensch in seiner Motorik nicht entziehen kann, wenn er sein möglichstes, das menschenmögliche versucht.“ (Plessner 2003a: 386) Unaufhebbar privat ist das Leibsein insofern, als leibliches Empfinden intransitiv ist, woran auch eine ekstatische Romantik der Symbiose nichts ändern kann; unaufhebbar öffentlich ist der Körper insofern, als er beobachtbar ist und wir immer mehr zeigen, als wir an uns selber wahrnehmen können, was wiederum für den Narzißmus ein Problem ist, weil wir uns immer ein Stück weit entzogen sind. Kinder merken das spätestens, wenn sie von anderen ausgelacht werden und vor Scham erröten, ihr Leid ist dann so ganz ihr eigenes. Eine wichtige Pointe bei Plessner besteht darin, daß Leibsein und Körperhaben jeweils eine Doppelaspektivität zukommt: der Leib, der ich bin, ist zugleich Körper gerade deshalb eine soziale Dimension meiner Identität, aber als solcher auch z.B. medizinisch behandelbar, weshalb die Überführung des Leibseins ins Körperhaben zum Schutze des leiblichen Wohls wichtig sein. Das Körperhaben umgekehrt ist eine Aufgabe in der Erlernung von Instrumenten z.B., wo bewußt körperlich gesteuertes Verhalten habitualisiert und insoweit verleiblicht werden soll (die Natürlichkeit das Virtuosen ist eine erworbene), aber auch im Schauspielen, denn der Schauspieler muß Verleiblichungsweisen, die der Verkörperung einer Rolle zugrunde liegen, erlernen. Ausgleich meint bei Plessner, allerdings wie bei Bockwyt, ein immer wieder zu vollziehender, das Erreichen eines temporären Äquilibriums, keinen finalen Ausgleich und keine Erlösung – im Gegenteil: „Hier ist das Ziel der Ausgleich, die Balance, und zwar eine durchaus labile, weil der Unterstützungspunkt den Schwerpunkt der Situation über sich hat, weil es an Normen für die Verankerung der individuell verteilten Gewichte fehlt.“ (Plessner 1981: 109)
Worin besteht hier die direkte Verbindung zu Bockwyts Buch? Die unaufhebbare Spaltung, die sich im privat-öffentlichen Doppelgängertum manifestiert, bedarf Plessner zufolge des Ausgleichs. Bei Bockwyt ist ein zentraler Satz des Buchs: „Die Psyche strebt stets nach Ausgleich“ (Bockwyt 2024: 195), während es bei Plessner 1924 hieß: „Unter Radikalismus verstehen wir allgemein die Überzeugung, daß wahrhaft Großes und Gutes nur aus bewußtem Rückgang auf die Wurzeln der Existenz entsteht; den Glauben an die Heilkraft der Extreme, die Methode, gegen alle traditionellen Werte und Kompromisse Front zu machen. Sozialer Radikalismus ist daher die Opposition gegen das Bestehende, insofern als es immer einen gewissen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Kräften der menschlichen Natur einschließt und den Gesetzen der Verwirklichung, dem Zwang des Möglichen gehorcht.“ (Plessner 1981: 14) Der Radikalismus des frühen 20. Jahrhunderts war eine Jugendbewegung, der Radikalismus und Gemeinschaftskult, der unter dem Namen des Wokismus ein Unwesen treibt, ist eine Identitätsbewegung, die nicht mehr an eine Altersgruppe gebunden ist. Doch Plessners und Bockwyts Antwort überschneiden sich trotzdem (zurecht) im Grundsätzlichen: Das Gegenprinzip läßt sich als „Ausgleich“ bzw. als die Annahme des Gesellschaftlichen, d.h. des Öffentlichen, in seiner irreduziblen Naturgebundenheit einerseits und seiner Bindung an Kultivierungsimperativ andererseits bezeichnen. Was bei Bockwyt als Finden einer Mitte im Erwachsenwerden behandelt wird, erhält bei Plessner konkrete Namen: Takt, Zeremoniell, Prestige.
Was versteht Plessner unter „Takt“?
Die Antwort im Zitat, das jede Paraphrasierung verbietet:
„Takt ist das Vermögen der Wahrnehmung unwägbarer Verschiedenheiten, die Fähigkeit, jene unübersetzbare Sprache der Erscheinungen zu begreifen, welche die Situationen, die Personen ohne Worte in ihrer Konstellation, in ihrem Benehmen, ihrer Physiognomie nach unergründlichen Symbolen des Lebens reden. Takt ist die Bereitschaft, auf diese feinsten Vibrationen der Umwelt anzusprechen, die willige Geöffnetheit, andere zu sehen und sich selber dabei aus dem Blickfeld auszuschalten, andere nach ihrem Maßstab und nicht dem eigenen zu messen.“ (Ebd.: 107)
Niemand wird ernsthaft behaupten können, irgendwas dergleichen im Milieu oder auch nur im direkten Umfeld von Wokeness je beobachtet zu haben. Takt erfordert die sympathetische Reaktion auch dort, wo Sympathie nicht gegeben ist, die Sensibilität dort, wo der kleinkindlich in sich selbst zusammengeschrumpfte Narzißmus nur die Sensitivität hysterisch zu artikulieren und gegen andere zu mobilisieren weiß. Takt wird von der Gesellschaft von jenen verlangt, die sich innerhalb der Gesellschaft in Situationen zu bewegen vermögen, in denen sie gegenüber Anderen in ihrer Andersheit bestehen müssen, ohne einen Anspruch darauf erheben zu können, alles den eigenen Launen und präpersonalen Regungen unterwerfen zu können. Taktvoll sein erfordert minimal, eine über die Subjektivität hinausreichende normative Objektivität sozialer Art zu verstehen und ins eigene Verhalten zu integrieren, d.h. auch: eigene Verhaltenskapazitäten in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und öffentlichen Erwartungen zu entwickeln, die autonom gegenüber den Befindlichkeiten einzelner sind, ohne deshalb ihnen gegenüber – das versteht das großgewordene dumme „Ich, ich, ich!“-Kind schon nicht mehr – indifferent oder ihnen feindlich gesinnt zu sein.
Was versteht Plessner unter „Zeremoniell“?
Es handelt sich hier um ein Bedingungsverhältnis: Kein Takt ohne Zeremoniell, da der Takt am Zeremoniell sich bildet, denn im Zeremoniell – der Spielcharakter ist hier wichtig und wird von Plessner betont – ist „die Beobachtung seiner Gesetze und Formen ist bindend“ (ebd.: 85), es hat also Einübungscharakter. Eingeübt wird dabei nicht die mechanische Wiederholung des Zeremoniells, sondern die personalisierende Integration des Individuums in gesellschaftliche Bezüge durch das Verstehen des Geistes des Zeremoniells, d.h. des Geistes des sozialen Kosmos von Bezügen und Praktiken, innerhalb dessen es steht und den es selber repräsentiert. Im Zeremoniell „ordnet sich die Individualität ein und unter, ein Allgemeines verbindet eine unbestimmte Fülle von Personen, die in gewissen Bedeutungsverhältnissen entweder zueinander oder zu dritten stehen, zu einheitlichem Verhalten von objektiv geregeltem Gepräge.“ (Ebd.: 85 f.) Nicht um Unterwerfung geht, sondern darum, „die Sicherheit und Würde des Benehmens“ zu erhöhen und zu sichern. Das Zeremoniell ist prinzipiell anti-narzißtisch, für den Narzißmus gibt es hier nur etwas zu gewinnen, wenn das Individuum sich durch Bezug auf etwas es weit, weit Übersteigendes formt. Daß Wokeness, wie Bockwyt (siehe oben) sagt, die „radikale Dekonstruktion und Veränderung all dessen […], was den Menschen Halt gibt“ (Bockwyt 2024: 157), anstrebt, ist insofern bemerkenswert, als Plessner zurecht sagt: „Kein Volk, es mag auf einer noch so primitiven Stufe der Kultur stehen, entbehrt des Zeremoniells in seinen religiösen, politischen und ökonomischen Handlungen.“ (Plessner 1981: 86) Nicht umsonst habe ich an anderer Stelle in einer grundsätzlicheren Kritik der Linken darauf hingewiesen, daß man nicht ohne Grund im linken Lager viel mit Carl Schmitt (und der Verwendung der Freund-Feind-Unterscheidung in Machtkämpfen), aber nichts etwa mit Hobbes anfangen; es kann einen Links-Schmittianismus geben, aber keinen Links-Hobbesianismus, weil der produktive Sinn von Hobbes’schen Grundbegriffen wie Autorität, Ordnung, Gemeinwohl oder Gesetzlichkeit von der heutigen Linken nicht im anspruchsvollen Sinn verstanden werden kann. Intersektionalität als Ziel anzusehen, ist das Geständnis, statt einer gesellschaftlich-öffentlichen Ordnung nur noch das brüchige sektenhafte Keinstmilieu als Refugium finden zu können, bis das Unausweichliche passiert – irgendeine neue „Selbstidentifikation“, die sich gerade jemand auf dem Klo ausgedacht hat, erzeugt eine neue Sektion und damit Feindschaft zwischen den Sektionen, die sich kurz zuvor noch als geeinte Bastion gegen “den Faschismus” (oder irgendwas dergleichen bzw. derungleichen) verstanden hatten.
Was versteht Plessner nun unter „Prestige“?
Auch Prestige ist nicht einfach ein weiterer Grundbegriff, sondern strikt komplementär zum Zeremoniell zu verstehen. Prestige steht für die das Angebot, in der gesellschaftlichen Selbstbehauptung durch Erfolg Ansehen zu erlangen. Prestige enthält das Versprechen von Ansehen, weil Erfolg darin besteht, sich innerhalb eines umgrenzten Rahmens durch untriviale Leistungen auszuzeichnen und hervorzutun, kurz: Prestige setzt die objektive Geltung allgemein verstandener Leistungskriterien, die Anerkennungswürdigkeit der sie erfüllenden Leistungen und einen meritokratischen Rahmen voraus, in dem bedeutende Qualitäten durchaus vielfältiger Art nicht willkürliche Konstrukte, sondern Ausweise von Exzeptionalität sind. Jemand sein kann nicht irgendeiner, aber jemand kann einer auch nur sein, weil man verstehen kann, was es heißt, jemand zu sein. Wer dies erreichen will, muß „danach trachten, seiner Individualität für die Abenteuer des praktischen Lebens ein besonderes, einzigartiges Ansehen zu geben“ (Plessner 1981: 88). Das Prestige ist bei Plessner aber auch an Qualitäten gebunden, die diejenigen, die Geschlecht für ein Konstrukt halten, vermutlich für maskulinistischen Heldenfanatismus halten: Dem nach Prestige Strebenden „wird die Aufgabe, in seinen Handlungen streng darauf zu sehen, daß er das Gesicht wahrt, daß er sich nichts vergibt und nirgends zurückgeht. Eine individuelle Unangreifbarkeit im Gegensatz zur formal-abstrakten, objektiv-regelhaften, wie sie das Zeremoniell verschafft, eine aus der persönlichen Natur stammende, möglichst nicht eindeutig definierbare Kraft wird verlangt, die dem einzelnen Kredit einbringt und die Umwelt an ihn glauben macht“ (ebd.). Mit bloßer Bankkonto-Hypergamie, eintagsfliegenhaften physischen Vorzügen (Fitness-Influencer und dergleichen) oder medienindustriell fabrizierten Pseudopersönlichkeiten mit demonstrabler Nichtleistungsfähigkeit, aber schicken Accessoires und glänzendem Tand und Plunder ist es in einer solchen Gesellschaft nicht getan, dem Zoologischen kommt hier keine Auszeichnungskraft zu. Prestige „erzeugt, indem es reelle Kräfte mobil macht, ernsthafte Bemühung um die Kraftquellen des menschlichen Daseins, es stiftet Kultur“ (ebd.: 90) und ist zudem seiner inneren Qualität nach mit Macht verbunden, allerdings nicht im Sinne der Raffgier, sondern der Überwältigung durch Kultiviertheit und Können: „Was dem Machthunger entspringt, findet seinen über den bloßen Sättigungszweck hinausreichenden Sinn, dadurch sein geistiges Rückgrat und eine dauernde Rechtsquelle seiner Befriedigung in dem Streben des Menschen nach Ausdruck und Geltung: nach Selbstobjektivation.“ (Ebd.: 90 f.) Selbstobjektivation setzt hier ein substantiell gesättigtes Selbst voraus; nichts entspricht diesem Begriff weniger als das sinnlose Aufblasprodukt, das heute Influencer heißt, den massenuniversitären Influencer-Intellektuellen ausdrücklich eingeschlossen.
Um all das geht es bei Bockwyt explizit nirgends und implizit letztlich überall. So wie Plessners Kernbegriffe bei Bockwyt keine Rolle spielen, so spielen Aggression und Narzißmus keine bei Plessner, und doch gibt es ein Konzept, in dem beide sich – wie bei der geistigen Verwandtschaft zu erwarten wäre – nahekommen: das Histrionische bei Bockwyt, das Rollenspiel bei Plessner. Was Bockwyt als Psychologin mit Blick für nichtausgleichsbedingte Schieflagen ins Visier nimmt, betrachtet Plessner sowohl sozialontologisch als auch radikalismuskritisch.
Das Histrionische ist nach Bockwyt das Resultat der Unfähigkeit, das, was bei Plessner das privat-öffentliche Doppelgängertum wäre, in der Gestaltung der individuativen Entwicklung zur anspruchsvoll ausgebildeten Personalität zu meistern. Was kennzeichnet die histrionische Persönlichkeitsstruktur? Die „Unfähigkeit, die notwendigen Begrenzungen des Lebens auszuhalten. Ein Mensch, der innerlich Kind geblieben ist – oder bleiben musste“ (Bockwyt 2024: 165), ist in Plessners Sprache: ein Mensch, der die Lernleistungen, die das Zeremoniell ihm auferlegte, nicht zu vollziehen imstande war. Um die Verbindungen weiter zu verdeutlichen, Bockwyt: „Das Histrionische im Menschen ist also das Leidenschaftliche, das Kindliche und die Sehnsucht nach unbändiger Freiheit“ (ebd.: 169), die leere und deshalb übermäßig verkrampfte und verbissene Sehnsucht nach „unbegrenzten freiheitlichen Möglichkeiten und Verleugnungen von begrenzenden Realität“ (ebd.: 192), eine Sehnsucht, die, wenn sie auf die Sexualität der allermeisten übergreift, nur dazu führt, „die Sexualität des Menschen in das Triebhafte zu banalisieren“ (ebd.: 169). Das Histrionische berührt sich mit dem, was bei Plessner die Nacktheit ist:
„Alles Psychische, das sich nackt hervorwagt, es mag so echt gefühlt, gewollt, gedacht sein, wie es will, es mag die Inbrunst, die ganze Not unmittelbaren Getriebenseins hinter ihm stehen, trägt, indem es sich hervorwagt und erscheint, das Risiko der Lächerlichkeit. Der pure Affekt, das Sich-los-lassen der Seele in den Ausdruck hinein, die Unmittelbarkeit der Äußerung, die wahrhafte Rückhaltlosigkeit in der Manifestation der Urteile ebenso wie der Handlungen oder des Mienenspiels wirkt – vielleicht nicht notwendig, aber immer möglicherweise – lächerlich.“ (Ebd.: 70)
Das Risiko der Lächerlichkeit gar nicht mehr erkennen oder gar erkennen zu können, die Sexualität durch scheinpolitische Überhöhung (Emanzipations-bla-bla betäubungssüchtiger Triebopfer, die nur in Kurzzeitbeziehungen, wenn überhaupt noch, vor sich dümpeln, oder eben die Scheidungsraten innerhalb von 3 bis 5 Jahren durch ihre kolossale Unfähigkeit, andere und sich selbst zu erkennen und einzuschätzen, bereichern) zu maskieren und durch eine leere rhetorische Aufplusterung, die einem 8jährigen jämmerlich erscheinen muß, auszustaffieren – ist lächerlich.
Was Bockwyt mit Plessner gemeinsam hat und 100 Jahre später aktualisiert, sollte klargeworden sein: eine Kritik an einer überschießenden Selbstfixiertheit, die in einen Kultus des Selbst und, wo im sektiererischen Stil vorhanden, eine cliquenhaft organisierte Selbstbespiegelung infantiler Lustpartikel mündet, die sich dem Gesellschaftlichen, dem Öffentlichen, dem Erwachsenwerden, dem Leben im anspruchsvollen Sinne verweigern, denn wo letzteres angenommen wird, kommt das vanitas-Motiv auf eine nicht erhebende Weise ins Spiel: daß man vielleicht das Menschsein am ehesten und besten anzunehmen bereit ist, wo man akzeptiert, ein Durchgangspunkt im Generationengang zu sein, aber bestrebt ist, dies auf die bestmögliche Weise zu sein – ob in der Elternschaft oder im kulturellen oder gesellschaftlichen Wirken.
Bockwyt und Plessner trennen sich ironischerweise gerade dort, wo sie sich von Plessner her treffen. Ihre Kritik des Histrionischen führt Bockwyt zu einer Kritik des Schauspielerischen per se; mit dem Schauspieler hält sie sich als ontologischer Figur nicht auf, sondern kommt direkt zur „narzisstische[n] Präsentation des Körpers“ (ebd.: 170), ihre Ausführungen bleiben hier schemenhaft. Plessner hingegen entwickelt eine Anthropologie des Schauspielers, die ein Kernstück seiner Theorie des privat-öffentlichen Doppelgängertums bildet: „Daß sich die philosophische Anthropologie einmal mit dem Schauspieler beschäftigt, mag auf den ersten Blick befremden. Befremdlicher ist die Tatsache, daß sie es bisher meistens unterlassen hat. Der Schauspieler stellt den Menschen dar. Ein Mensch verkörpert einen anderen.“ (Plessner 2003b: 403) Das muß man erst einmal können können, und wer solches Geschehen in anspruchsvoller Weise versteht, kann aus dieser Keimzelle der Personalisierung durch das Rollenspiel hindurch wiederum vertieft lernen: am Theater, an der Literatur, womöglich sogar am Film. In der schauspielerischen Verkörperung und Präsentation ein anderer zu werden, setzt Distanz und Vergegenständlichung voraus, vor allem Distanz in der Identifikation, die nötig ist, wenn die Präsentation gelingen soll. Deshalb fragt Plessner mit Blick auf den ontologischen Typus, nicht im Hinblick auf diesen oder jenen Typus auf der Bühne: „Enthüllt der Schauspieler nicht, wenn sein Darstellungsbereich der Möglichkeit nach unbegrenzt ist, jedenfalls in einer besonderen Hinsicht die menschliche Konfiguration?“ (Ebd.: 410)
In beiden Fällen erhält der Leser eine Diagnose, aber keine Lösung, auch keine Anleitung zu einer Lösung. Bockwyt formuliert eine Psychologie des Kulturkampfs, Plessner legt zwar eine sprachgewaltige Kampfschrift vor, aber ohne therapeutische Anleitung zum happy end (worin Plessner sich allerdings eminent von Bockwyt unterscheidet, ist die überall – und insbesondere im Selbstbehauptungsstolz, im aristokratischen, aber auch dem heutigen Verständnis weitgehend als solches unzugänglich gewordenen männlichen Verständnis von Würde – spürbare Herkunft aus dem Großbürgertum der Jahrhundertwende). Plessner definiert die Erfolgskriterien praktisch bescheiden und theoretisch anspruchsvoll (weil nur eine Minderheit für das erreichbar ist, was ihm vorschwebt): „Die vorliegende Abhandlung hat ihren Zweck erreicht, wenn es ihr gelungen ist, zu zeigen, daß die ganze Sphäre der Öffentlichkeit unter diesem Gesichtspunkt eines Hygienesystems der Seele, wir wollen nicht sagen, so wie sie heute aussieht, sich rechtfertigen läßt.“ (Plessner 1981: 133) Bockwyt spricht von den „gesellschaftlich erstrebenswerte[n] Zustände[n] der Balance“ (Bockwyt 2024: 192), kann aber dieselben natürlich weder hervorbringen noch verordnen mit ihrem Buch. Beide sind sich aber nicht nur einig darin, daß das Psychische kein isoliertes eigenes Reich ist, sondern es – egal, welche Terminologie man bemüht – darum gehen muß: „Maß und Begrenzung ist das Höchste für menschliches Streben.“ (Plessner 1981: 131; Hervorhebung, S.E.)
Literatur:
Bockwyt, Esther (2024): Woke. Psychologie eines Kulturkampfs. Berlin: Westend.
Krüger, Hans-Peter (1999): Zwischen Lachen und Weinen, Bd. 1. Das Spektrum menschlicher Phänomene. Berlin: Akademie.
Krüger, Hans-Peter (2001): Zwischen Lachen und Weinen, Bd. 2. Der dritte Weg Philosophischer Anthropologie und die Geschlechterfrage. Berlin: Akademie.
Plessner, Helmuth (1981): Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 5. Macht und menschliche Natur. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 7 – 133.
Plessner, Helmuth (1985): Soziale Rolle und menschliche Natur. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10. Schriften zur Soziologie und Sozialphilosophie. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 227 – 239.
Plessner, Helmuth (2003a): Anthropologie der Sinne. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3. Anthropologie der Sinne. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Plessner, Helmuth (2003b): Zur Anthropologie des Schauspielers. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd 7. Ausdruck und menschliche Natur, 399 – 418.
In der akademischen Variante und der entsprechenden Ausführlichkeit siehe Krüger 1999, 2001, wo die Grundbegriffe Plessners weitreichend systematisiert und insofern – wie das privat-öffentliche Doppelgängertum oder die Personalisierung – terminologisiert werden.