Pauline Voss: Generation Krokodilstränen
Von Sebastian Edinger
Bücher, die das Wort "Generation" im Titel enthalten, gibt es mittlerweile mehr, als es verschiedene Generationen überhaupt in den letzten zwei Jahrhunderten gegeben haben kann. Der Grund liegt natürlich in der Verkaufsträchtigkeit, Generationenporträts sind beliebt, man hofft, über das eigene Leben und das von Freunden oder über das von älteren oder jüngeren Verwandten in einer gleichermaßen physiognomisch vielsagenden und damit das gar nicht in concreto dem Autor vor Augen liegende könnende Individuelle mehr zu erfahren oder es wenigstens auf den treffenden Begriff gebracht zu finden. Gerade dieses Bedürfnis kollidiert nicht selten in unguter Weise mit dem Bedürfnis von Verlagen, Absatz für Bücher zu finden. Was dann in der Realität passiert, ist, daß ein Schema überstrapaziert wird und sich totläuft. (Beispiele für gelungene Bücher in diesem "Genre" sind, um drei Beispiele zu nennen, Stefan Bonners und Anne Weiss' 2008 erschienenes Generation Doof. Wie blöd sind wir eigentlich?, das in gewisser Weise ein gutes Präludium zu Voss' Buch darstellt, weil man tatsächlich eine ganz und gar kon-nongeniale Generation Doof braucht, um mit der Generation Krokodilstränen nicht die Geduld zu verlieren und sie und kommende Generationen nicht einem harten Erziehungsregime unterwerfen zu wollen, dazu Michael Nasts betrübliches Buch Generation beziehungsunfähig von 2016 und Mark Bauerleins den dysgenischen Vorlauf des aktuell sich vor unseren Augen resultativ ausbreitenden kognitiven Horrors hervorragend darstellendes Buch The Dumbest Generation. How the Digital Age Stupefies Young Americans and Jeopardizes Our Future aus dem Jahr 2008).
Pauline Voss' intelligentes, gewitztes, in vielem subtiles, hellsichtiges und erfrischendes Buch bedient das Bedürfnis, ohne sich marktschreierisch dann im Vagen und Nichtssagenden zu verlieren, und das, obwohl sie das Soziologenbedürfnis einer Definition der Generation Krokodilstränen entlang von Geburtsdaten in ihrem Buch nicht gibt. Sie erwähnt 1992 geborene Künstler, die sie als „damit typische Vertreter der Generation Krokodilstränen" (Voss 2024: 78) bezeichnet, diskutiert unter dem Namen auch Billie Eilish (geb. 2001), den Rapper Maurice Conrad (geb. 2000), und Sophie Passmann (Jahrgang 1994). Vielleicht kann man hier vom gemeinsamen Nenner her definieren: Es scheint sich um diejenigen zu handeln, die zu früh ein Smartphone besaßen, um den ihnen begegnenden Inhalten auf der Basis einer hinreichend entwickelten Personalität begegnen zu können, und die weder kulturell noch – in der weiten Mehrzahl der Fälle – familiär in gegensteuernden Kräften den Rückhalt gefunden hätten, der sie davor hätte bewahren können, Opfer dessen zu werden, als dessen Nutzer sie sich gerne verstehen und als die sie liebend gerne von denen adressiert werden, die ihnen etwas zu verkaufen haben oder die schlicht sie als Produkt verkaufen wollen. Meine provisorische Definition deckt sich jedenfalls mit dem, was Voss uns in einer gedankenreichen Phänomenologie vors geistige Auge bringt.
Die Lektüre des ersten Kapitels läßt den Leser schnell verstehen, woraus dieses Buch primär erwachsen ist: aus einer weit überdurchschnittlichen Auffassungsgabe, geistigen Wachheit und Lebendigkeit, die sich unter anderem in Voss' Rückgang auf eigene Kindheitserinnerungen bekundet, die nicht als Erzählungen aus einer gänzlich anderen Welt präsentiert werden, sondern als Frühinnervierungen der Pathologien, die das Buch behandelt. Die Fähigkeit, Dinge zu memorieren, und die, sie zu artikulieren (Voss beherrscht die deutsche Sprache sogar so gut, daß sie von „Selbstwirksamkeit" (ebd.: 13) spricht, statt dem Leser in der üblichen Faulheit agency ins Gesicht zu spucken), finden hier glücklich zueinander – vielleicht auch weniger glücklich, wenn man sieht, wie Voss die schulische Sexual"aufklärung" als einen Spießrutenlauf durch eine institutionalisierte sexuelle Belästigung (auf gleichwohl gewitzte und deshalb amüsante Weise) schildert; das Resultat der nutzlosen Zeitverschwendung: „Und so mündete der Kampf gegen die sexuelle Unterdrückung darin, dass wir uns im Biologieunterricht Sextipps unserer Lehrerin anhören mussten." (Ebd.: 42)
Der wache Sinn für das, was die Realität ihr vor Augen führt, bestimmt auch ihren Zugang zu Theoretischem, das nie aufgrund eines bestenfallsigen Halbverstandenseins in der Luft hängt als als legitimitätslose Legitimationskeule herangezogen wird, die ihre Wirkung nur einer Aura verdankt, die lediglich für ein bestimmtes Milieu existiert, außerhalb desselben aber eher Kopfschütteln erzeugt, als jemanden zu beeindrucken. So bekommt sie das Kunststück hin, mit Foucault zu arbeiten, ihn also tatsächlich als Werkzeugkasten zu benutzen statt als Gängelband, d.h. ohne damit zu langweilen oder geradezu zu enervieren, denn das akademische Schrifttum ist zu Foucault zum größten Teil unerträglich einfallslos, belanglos, trivial und krückengängerisch beim gleichzeitigen Glauben daran, man könne oder würde fliegen, wenn man nur Meister Foucault zitiere.
Den „Wokies“ hält Voss eine Verkehrung der Foucault'schen Intention vor: „Anstatt seine Untersuchung totalitärer Machtmechanismen als Analyse zu verstehen, verwenden sie sie als Anleitung zu totalitärem Denken." (Ebd.: 19) Wie? Indem man nicht mehr Machtmechanismen analysiert, sondern sie registriert, um sich ihnen anzupassen und zu unterwerfen – natürlich nicht, ohne in ein double bind zu geraten: als Wegweiser zu benötigen, was man als Peitsche verdammt. Die wohl beiden wichtigsten Aspekte der Machttechniken der Wokeness, die Voss analysiert, dürften sein:
(1) die Logik des Panopticons zu internalisieren und gegen sich selbst zu wenden, vor allem aber gegen andere in Anschlag zu bringen, woraus dann eine Verklemmtheit, Gehemmtheit und untergründige Dauergereiztheit und absurd angewachsene passive oder offene Aggressivität resultiert,
(2) das Pathos der Befreiung, das in eine Unterdrückung dadurch umschlägt, daß das Reden an allen Ecken und Enden mit Verboten und Regulationsimperativen (richtige Wortwahl, mehr noch: vor allem die falsche vermeiden) umzingelt ist; mit Voss' Worten: „Statt in Kategorien des Normalen und des Pathologischen denken wir wieder in den Kategorien 'der Verfehlung und der Sünde, des Exzesses oder der Überschreitung' (ebd.: 49);
(3) direkt widerstreitend: die behauptete Realität der Repression bzw., wie Voss an vielen Stellen sagt, die Repressionshypothese;
(4) als Spezifikation der Repressionshypothese die Diskriminierungshypothese.
Zu (1) Internalisierung der Logik des Panopticons:
Das führt zu folgendem bizarrem Verhalten: „Es ist gerade diese Unberechenbarkeit [der Cancel Culture, S.E.], die den Einzelnen dazu zwingt, permanent die eigene Einhaltung der Regeln zu kontrollieren, oder in den Worten von Foucault: die Zwangsmittel der Macht gegen sich selbst auszuspielen." (Ebd.: 22) Konkreter: „Längst denken wir im Voraus mit, welche Aussagen oder Ausdrucksweisen auf Ablehnung stoßen könnten. Jetzt ist nicht mehr das Gegenüber, das uns kontrolliert, sondern wir selbst.“ (Ebd.: 24) Das macht bereits, wer darauf achtet, was er (zu wem) sagt. Im Modus der Externalisierung und Projektion tut es, wer das Sprechen anderer nach gegen sie verwendbaren Regel- bzw. Tabubrüchen absucht. Voss gibt etliche Beispiele dafür in ihrem Buch, eines davon ist: „Das Imperial College London warnt davor, Frauen im Alter von über dreißig Jahren auf den Ringfinger zu schauen, weil dies sie in traditionelle Geschlechterrollen dränge.“ (Ebd.: 97) Wenn man weiß, daß jemand weiß, daß es ein Problem sein könnte, wo er hinschaut, könnte es bei entsprechender Böswilligkeit und Geringfügigkeit des Verstandes, der nichts Größeres mehr anvisieren kann als Geländegewinne in solchem Intellektualschlammterritorium, lohnend sein, aufs Schauen desjenigen zu schauen. Im großen Stil manifestiert sich die panoptische Introjektion, wenn Intimbeziehungen rituell verrechtlicht werden und die Art der rechtlich korrekten Durchführung sogenannten „Studierenden“ mit sehr kleinkindlichem Verstand eigens beigebracht wird; Voss’ theoretisch unterfütterte Schilderung des Irrsinns der Princeton-Initiative UMatter ist ein Genuß, der hier nicht vorweggenommen werden soll. Nicht nur muß die Logik des Panopticons internalisiert werden, sie muß auch der Verrechtlichung zugeführt werden.
Zu (2) Pathos der Befreiung:
Voss’ Buch enthält zahllose Analysen von den Satiriker mit Material bombardierenden Verschränkungen des Befreiungspathos mit Unterdrückungsexzessen im Gefolge. Die Befreiung ist in der heutigen Gesellschaft eine vorgestanzte, nicht nur regelgeleitete, sondern minutiös angeleitete, durchregulierte, in der der Disziplinarmacht gehorcht wird, wo das Aufbegehren gegen was auch immer (das Patriarchat wird z.B. gerne bemüht, ohne daß einer derjenigen, die das Wort aussprechen, es nur halbwegs sinnvoll definieren könnte, wenn ihr Leben davon abhinge) zelebriert wird. Mit Voss’ Worten: „‘Befreie dich verdammt noch mal!', lautet die Botschaft; es ist die vielleicht raffinierteste der heutigen Disziplinarmacht. Und das Merkwürdige ist, wie sehr wir sie anbeten. Die Selbstdisziplinierung im Namen unserer Befreiung verschafft uns offenbar einen solchen Lustgewinn, dass sie sogar als Werbeversprechen funktioniert. Wir leben in Zeiten des moralischen Masochismus." (Ebd.: 32) Die Pointe des Pathos der Befreiung ist die Unterwerfung unter die Ostension von Befreiung. Die konkrete Gestalt der Absurdität solcher Befreiung wird von Voss (mitunter unangenehm) farbenreich geschildert, z.B. so: „Jungen, die Röcke tragen wollen, und Mädchen, die lieber wild als brav sind, wird immer öfter nahegelegt, sie müssten ihren Körper mit Hormonen und später mit Operationen modifizieren, damit er mit ihrem Wesen übereinstimme. Das binäre Denken gedeiht auf dem Boden seiner vermeintlichen Überwindung.“ (Ebd.: 36 f.) Voss zeigt zudem am Beispiel der Influencerin Anouk Lamm Anouk, daß im Anwendungsfall „Befreiung vom Patriarchat" die Pointe des Kampfes gegen das Patriarchat in der Abhängigkeit von der monetären Verwertbarkeit der Inszenierung des Kampfes besteht; wird das Patriarchat wirklich überwunden, so wird die Luxuswohnung in Wien anderweitig finanziert werden müssen. Wie? Darauf erwarte man bloß keine Antwort von jenen, die auf keine einzige der Floskeln, die sie in die Welt hinausposaunen, je selber gekommen wären. Geliefert oder erzeugt werden hier Identitäten, die ach so einzigartig und individuell (und ununterscheidbar) sind, wie sie entdeckt werden – nämlich geradezu industriell: „Um den Diskurs fortzuführen, müssen immer neue Minderheiten identifiziert werden, die anschließend befreit werden können.“ (Ebd.: 53)
Die internalisierte Logik des Panopticons gibt dem Pathos der Befreiung die praktische Anleitung zur selbigen, allerdings mit dem Resultat einer Verrechtlichung des ehemals Intimen; um einen zentralen Satz erneut zu zitieren: „Der Blick ins Schlafzimmer wirkt nicht übergriffig, solange er sich dem Schutz der unterdrückten Individuen verschreibt.“ (Ebd.: 50) Wer einen vor allem schützen soll, muß alles wissen dürfen. Man ist gegen die totale Überwachung? Dann muß man gegebenenfalls darauf verzichten, Ansprüche gegenüber anderen geltend machen zu können und, wo der Wunsch nach auf dem Weg der Anklage artikuliertem Ersehnten versagt bleibt, weiter unterdrückt bleiben. Die Pointe des Juridischen ist hier wiederum, was Ulrich Sonnemann1 bereits in den 1960ern geißelte und Gilles Deleuze2 im Begriff der Kontrollgesellschaft auf den Punkt bringt: „Um den Sex hat sich – unter dem Banner der Befreiung – eine Atmosphäre der Kontrolle etabliert: Kontrollieren, um zu befreien.“ (Voss 2024: 34) Den bürokratisch sterilisierten und dadurch nur um so obszöneren Über-Ich-Aspekt, der die Überwachung durch eine partikular allwissende, obwohl generell verstörend unwissende Instanz auf bizarre Weise legitimiert, durchschaut Voss natürlich auch: „Die sexuellen Befreiungskämpfer der Gegenwart treten auf wie Gutachter eines Sex-TÜVs, die die Deutungshoheit über das Erlaubte innehaben.“ (Ebd.: 56) Was sich über Voss’ Ausführungen hinausgehend hier noch besonders zu thematisieren lohnen würde: Die Befreiung erfolgt nicht nur nicht ohne Kontrolle und Verrechtlichung, sondern auch nicht ohne Kompetenzabtretung in der Beurteilung der Kriterien des Befreitwordenseins – aber wer figuriert hier als „kompetent“? Wenn Mädchen dazu „genötigt [werden], vor der Schulklasse über ihr Masturbationsverhalten zu sprechen – im Namen ihrer eigenen ‚Befreiung‘“ (ebd.: 41) und zu den Resultaten dieser aufgenötigten Selbstausstellung (oder notgedrungenen „Selbsterfindung“) gehört, „dass allein in meinem Umfeld zwei Mädchen [...] wochenlang nicht zur Schule gingen, weil die erzwungenen sexuellen Geständnisse Missbrauchserfahrungen hatten hochkommen lassen“ (ebd.), dann drängt sich die Frage nach den elementaren Verstandesfähigkeiten der vermeintlichen Bildungs- und Aufklärungsbeauftragten nur um so stärker auf. Aber vielleicht sind die angesprochenen Sextips der Biologie“lehrerin“ schon die (im mehrfachen Sinn) erschöpfende Antwort. Bekommt man derartige Auswüchse der Totalisierung von Überwachung und Kontrolle vor Augen geführt, kann man sich nur schwer des Eindrucks erwehren, man würde hier eine Fortsetzung von Blödmaschinen (Metz/Seeßlen 2011) lesen, aber zum Westen in seiner heutigen Verfallsform gehört die Ununterscheidbarkeit des schlechthin Totalitären vom schlechthin Blödsinnigen (= des schlechthin Lächerlichen).
Zu (3): die Repressionshypothese.
Voss, die in autobiographischer Synopsis sagt „Über gesellschaftliche Repression klagten wir nicht“, faßt die Repressionshypothese erfreulich bündig zusammen: „Erstens: Die Sexualität wird unterdrückt. Zweitens: Die Sexualität kann und muss befreit werden.“ (Voss 2024: 42) Wie in sämtlichen Themen, die sie behandelt, arbeitet Voss auch hier klar heraus, wie die Befreiung zur Befreiungsindustrie gerät und auf keinen Fall des Gegenstands ihrer Bemühungen verlustig gehen werden darf; ihr Erfolg darf immer nur in kleiner Teilerfolg sein, der um so mehr verdeutlicht, wieviel im ganzen genommen zu tun bleibt:
„Die größte Bedrohung der Repressionshypothese geht von ihrem eigenen Erfolg aus. Sobald die Mehrheit der Gesellschaft der Hypothese zustimmt und die Repression zu bekämpfen beginnt, wird es schwieriger, über Repression zu klagen. Wenn sich eine ganze Gesellschaft oder zumindest ihre kulturelle Elite erfolgreich gegen die Unterdrückung wehren würde, würde die Unterdrückung verschwinden; die Repressionshypothese wäre entkräftet.“ (Ebd.: 46)
Die Bekämpfung der Repression, die als totale angesehen wird, bedarf der totalen Überwachung, um effektiv sein zu können: „In der panoptischen Gesellschaft ermöglicht die Sichtbarkeit erst jene gesellschaftliche Kontrolle, vor der sich die sexuellen Minderheiten ursprünglich einmal schützen wollten." (Ebd.: 55) Das sollte bedrohlich klingen, doch der Effekt ist, da das Mitwirken am Befreiungskampf etliche Gratifikationen einzuheimsen ermöglicht, ein ganz anderer und wird von Voss mittels einer ins Schwarze treffenden entomologischen Metaphorik geschildert: „Die Bekenntnissüchtigen erinnern an Insekten, die an die Fensterscheibe des Labors pochen, sich unters Mikroskop legen und selbst sezieren." (Ebd.) Woher die Bekenntnissucht? Man kann als Unterdrückter durchs Bekenntnis sich befreien und zum Befreier anderer (Symbol, Repräsentant, oder – um die Sache in ihrer dysgenisch-massendemokratischen Form zu benennen – als „Influencer“) werden: „Die Repressionshypothese funktioniert über Dualität: Dem Unterdrücker ist der Befreier gegenübergestellt, dem Vertuschen das Enthüllen.“ (Ebd.: 48) Wer will nicht zu einer so heldenhaften Figur dadurch werden, daß er ein Skript und nicht selten strikte Anweisungen befolgt? Wer wird nicht verführt durch ein solches Transzendenzversprechen, auch wenn man das Wort nicht kennt und nicht versteht? Die Repressionshypothese ist sensu stricto keine Hypothese, die verifiziert oder falsifiziert werden kann oder soll, sondern ein Ticket: Kommen Sie herein, machen Sie mit uns die Unterdrücker platt. Es geht schließlich um nicht weniger als um das industrielle Maximum im Befreiungskampf, es geht um jeden, weil es um „die Gesellschaft“ (ebd.: 48) geht, und es muß um „die Gesellschaft“ gehen, wenn es ernsthaft um jeden gehen können soll. Verwundert es dann wirklich noch, daß Voss die so triftige wie kluge Frage stellt: „Ist sein Buch ‚Der Wille zum Wissen« bei genauerer Betrachtung nicht auch ein Versuch, die Sexualität zu befreien – eben nicht zu befreien aus der Unterdrückung, sondern aus der vermeintlichen Befreiung?" (Ebd.: 75 f.)
Zu (4) die Diskriminierungshypothese:
„Die Repressionshypothese hat sich verwandelt. Sie ist zu einer Diskriminierungshypothese mutiert.“ (Ebd.: 51) Beide Hypothesen sind dadurch verschwistert, daß ihr Erfolg, den sie anstreben müssen, Gift wäre, würden sie ihn als solchen akzeptieren. Auch hier gilt: „Diskriminierung muss erkannt, dokumentiert, angeprangert, bekämpft, verhindert werden.“ (Ebd.) Den Aufwand können Marginalisierte nicht leisten (vgl. ebd.: 53), hier muß das Zentrum agieren, hier muß die totale Überwachung die Diskriminierung bekämpfen, d.h. zwischen Diskriminierern und Diskriminierten diskriminieren, um den Diskriminierten die Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die die Diskriminierer als die Rache erfahren, die sie ist. Versöhnung, Schlichtung oder das Finden eines modus vivendi ist hier kein Ziel: „Indem ein Sprecher als Regelbrecher markiert wird, soll er entweder zur Anpassung gezwungen oder aus dem Diskurs ausgeschlossen werden.“ (Ebd.: 30) Ein Beispiel, an dem Voss dies alles hervorragend veranschaulicht, ist das einst riskante, nun auf Verwertung abgestellte, peepshowhafte coming out, dessen Eventcharakter sich in den Augen derer, denen nichts mehr am Herzen liegt, als den Beichtenden unter den identitären Rock zu schauen und solchen Voyeurismus für teilnahmsvolle Zeugenschaft zu halten, der ganzen Chose nichts von ihrer beschworenen Authentizität nimmt.
Der voyeuristische Charakter der Diskriminierungsaufarbeitung wird am deutlichsten, wenn sexuelle Diskriminierung untersucht wird, wenn also in Form von Geständnissen darüber gesprochen werden muß; keine industrielle Aufarbeitung behaupteter, realer oder erfundener sexueller Diskriminierung ohne und außerhalb von Geständnispornographie: „Wie die Sexualität, so muss auch die Diskriminierung zum Sprechen gebracht werden, um sie diskursiv verwerten zu können, und zwar mittels Bekenntnissen, abgerungenen Geständnissen, Prüfungen, in denen der Geständige entschlüsselbare Zeichen und Codes verwendet.“ (Ebd.: 81) All das ist strapaziös und leidvoll, aber im wesentlichen für diejenigen, die es reale Probleme erzeugt, nicht für diejenigen, die das Leiden an der Sache zelebrieren und genießen, wie Voss eindringlich am Beispiel Sophie Passmann zeigt; das Aufgezeigte in grundsätzlicher Form artikuliert: „Die Generation Krokodilstränen beschwört ihre Verletzungen mit einer solchen Leidenschaft, dass man unmöglich annehmen kann, sie litte unter ihnen.“ (Ebd.: 86)
Im Klartext-Modus wendet Voss sich auch an den Leser, wo es um Corona geht: „Die Pandemie bewies wie wahrscheinlich kein zweites Ereignis, dass den Verfechtern der Diskriminierungshypothese das Phänomen der Diskriminierung vollkommen gleichgültig ist, ja, dass sie es sogar gutheißen, wenn es ihren politischen Zielen dient.“ (Ebd.: 115) Voss veranschaulicht daran, daß hier die Stigmatisierung, deren Verfolgung öffentlich als Heilsereignis der Inschutznahme der Guten ausgerufen wird, als „repressive Macht“ (ebd.), was sie pointiert auf der logischen Ebene zum Funktionieren der Diskriminierungshypothese artikuliert: „Das Disziplinarsystem hat sich der Logik der Diskriminierung angepasst, seine Mechanismen auf sie abgestimmt. Die Diskriminierung dient als Projektionsfläche und ist der erfolgversprechendste Hebel der Diskursivierung.“ (Ebd.: 81) Und die Diskursivierung dient wiederum der Verwertung der Diskursivierung, sie muß deshalb alles beobachten, um alles verwerten zu können. Dabei bleibt dann vieles auf der Strecke, und zu diesem Vielen gehört neben dem vielen Einzelnen das Erkennen grundsätzlicher Probleme: „Je weiter die Diskriminierungshypothese den Diskurs durchdringt, desto abgekoppelter erscheint dieser von realen Problemen.“ (Ebd.: 103)
Ein letzter Aspekt soll noch hervorgehoben werden: Neben der flächendeckenden Überwachung und der latent hysterischen Dauerbereitschaft zur Verfolgung und sozialen Vernichtung geht es darum, den politischen und identitären Gegner in eine Vorab-Selbstunterwerfung hineinzudrängen:
„Nur ein Spießer störe sich an ein paar Gendersternen, behaupten die Diskurswächter und verwalten die korrekte Sprache derweil selbst wie Erbsenzähler. Gleichzeitig lassen die scheinbar winzigen Forderungen, deren Erfüllung zumindest für intelligente Menschen keine große Hürde darstellt, jeden Widerstand bösartig erscheinen. Wer sich solch minimalen Zugeständnissen verweigere, dem bereite es wohl Freude, Minderheiten zu diskriminieren.“ (Ebd.: 102)
Wo die Aufgabe der überlieferten Normalität zugelassen wird, wird der Rücktritt von der Aufgabe, weil sie als Teil eines Generalangriffs auf alles Bestehende erkannt und verworfen wird, zum aggressiven statt zum defensiven Akt. Es geht um die Auferpressung eines Kotaus, ohne daß er noch explizit gefordert werden muß. Hier weist Voss auf etwas hin, das man nicht entschieden genug herausstellen kann: Jede Unterwerfung ist Unterwerfung nicht primär unter dieses oder jenes mit der Freiheit, Entscheidungen zu revidieren, sondern Unterwerfung unter die normative Normalität der Unterwerfung. Es ist zu hoffen, daß genügend Menschen das Buch lesen und genau dies begreifen, um fortan, nötigenfalls aggressiv und konfrontativ, jegliche Unterwerfung zu verweigern – jede Entschuldigung, die ohnehin keinem Verzeihen, sondern nur der Vernichtung auf der Basis der eingestandenen Angemessenheit des Vernichtens durch das „Schuldbekenntnis“ ist, inklusive.
Was bleibt kritisch anzumerken? Auch Voss geht einem Thema aus dem Weg, das nicht länger in Schweigen gehüllt werden kann. Um drei Beispiele zu geben:
(1) „Warum widmet sich meine Generation Problemen mit wachsender Dringlichkeit, je weiter diese von der eigenen Realität entfernt sind?“ (Ebd.: 12) – Vielleicht weil diese Probleme verbindlicher definiert sind durch Vorgaben und durch den allgemeinen Konformismus, der diese Probleme gerade unangetastet läßt, während das eigene Leben ein Gegenstand von Konfusion und Unverständnis ist, da es in einer Gesellschaft gelebt wird, die einem kaum Verstehensmöglichkeiten (die erschließen sich die wenigen durch ernsthaftes Klassikerstudium, während die meisten nie etwas kennenlernen als die kulturindustrielle Kloake), statt dessen aber haufenweise nutzlose Ideologeme und Mythologeme an die Hand gibt, ja, sie einem als Gängelband aufzwingt? Das hat zu tun mit:
(2) „Ob in der Popmusik, in der Politik, im Aktivismus, im Journalismus, in der Belletristik – überall beweisen junge Frauen heute Mut zum Größeren und setzen sich leidenschaftlich für ihre Anliegen ein. Und stechen dabei ihre männlichen Kollegen vielfach aus. Auch die anderen von Passmann aufgestellten Behauptungen zeugen eher von Talent zur Fiktion als von Beobachtungsgabe." (Ebd.: 151) – Wer? Und wie viele sind viele? 10 wären m.E. eine ganze Menge. Können sie (noch) nicht bekannt sein, weil sie als „widerständige Elemente“ kleingehalten und, etwa im Kunstsektor, nicht gefördert werden? Wäre es, wo möglich, nicht sinnvoll, Namen zu nennen? Voss gehört zu dieser Gruppe, aber Namen wären hier nützlich, da die Lage in Deutschland vergleichsweise deprimierend ist, wenn man einmal (altersunabhängig) den Blick auf Großbritannien richtet, wo etliche Frauen sich als bedeutende öffentliche Intellektuelle außerhalb bestimmter Nischen und Milieus hervorgetan haben, z.B. Poppy Coburn, Helen Dale, Mary Harrington, Helen Joyce, Louise Perry, J.K.Rowling, Kathleen Stock, Emma Webb (Musterbeispiel eines in Intonation und Artikulation würdevollen und respektgebietenden Vortragsstils):
– wo sind Personen von vergleichbarem Format in Deutschland?
(3) „Während die sprachlichen Regeln und Kategorien angeblich alle sexuellen Subjekte davor schützen sollen, ausgeschlossen zu werden, schließen sie aufgrund ihrer Komplexität absichtlich den Großteil der Bevölkerung aus. Begriffe wie ‚grey-sexuell‘ oder ‚demiromatisch‘ dienen nicht der Verständigung, sondern der Distinktion des Sprechers. Am zeitgenössischen sexuellen Diskurs teilnehmen zu können, ist aufgrund des nötigen Vorwissens ein Zeichen von intellektuellem Prestige.“ (Ebd.: 54) – Leider hat Voss hier eine Gelegenheit ungenutzt gelassen. Intellektuelle Distinktion beim Geplapper über die immer mehr Leute immer mehr und sinnloser konsumierende Sexualität? Distinktion auf welchem Niveau? Es wäre m.E. an der Zeit, hier aggressiv in den Klartext-Modus überzugehen: Es ist die Pseudo-Distinktion für Midwits und Sub-Midwits, denen alle Distinguiertheit abgeht und die nicht im Ansatz über nennenswerte intellektuelle Fähigkeiten verfügen, sonst würden sie intellektuelles Prestige aus ganz anderen Dingen herzuleiten versuchen. In Ermangelung von etwas, das auch nur entfernt nach bescheidenem geistigem Talent aussieht, wird auf Grundschulniveau in peinlichen Zankereien über nichts hyper- und pseudodifferenziert, während man ernstzunehmenden Stoff intellektuell weder bewältigen kann noch sich an ihn herantraut, vermutlich aber auch nie darauf kommen würde, damit überhaupt etwas zu tun haben wollen zu können, da dazu jeder genuine Antrieb und die Geisteskraft fehlt, mit der er sich verbünden könnte. Gemäß den Universitäten der hedonistischen Massendemokratien und den dort verschleuderten Klopapierzertifikaten handelt es sich bei solcher Distinktion um die Triumphe derer, die es für einen Hochbegabungsnachweis halten, das neueste Suhrkampheftchen einigermaßen problemlos lesen zu können. Natürlich wird Voss keinerlei noch so minimale intellektuelle Herausforderung darin sehen, sich solche Sprachspiele nebenbei anzueignen, falls es für ihre Arbeit nötig sein sollte, aber es wäre zu wünschen, daß sie dabei mitwirkt, solchen lächerlichen Distinguiertheitsprätentionen den Anschein jeglichen Geltungsanspruch zu bestreiten.
Voss bringt Frische in eine geistig allzu hüftsteife Öffentlichkeit, die intelligente, auffallend gut und elegant formulierte Widerworte mehr als nötig hat. Zudem hat Voss, was alles andere als leicht ist, einen Zugang zu Foucault präsentiert, der ihn nicht zum linksakademischen, den Leser schon bei der Erwähnung des Namens zum anhaltenden Gähnen verdammenden Agendaclown macht; dementsprechend überrascht es nicht und erfreut ausdrücklich, daß Voss gemäß der unvorbelasteten Eigenständigkeit, mit der sie das Thema angeht, ohne akademische Fußnoten und (notgedrungen) masochistische Referenzen auf die sogenannte "Foucault-Literatur" (schlimmstenfalls "Foucault-Forschungsliteratur") auskommt. Beeindruckend ist auf jeden Fall, wie unbeeindruckt Voss von den eingeübten Immergleichheiten ist. Hoffen wir, daß sie sich als Fanal erweisen wird – gerade für die Frauen ihrer Generation, die sich hoffentlich zunehmend aus der Deckung wagen werden.
Literatur:
Deleuze, Gilles (2005): Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Metz, Markus/Seeßlen, Georg (2011): Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität. Berlin: Suhrkamp.
Sonnemann, Ulrich (1989): Rehabilitierung des Unverfügbaren oder Warum erst Vernunft, die auch über sich selbst sich noch aufklärte, eine ist. In: Gerhard Bolte (Hrsg.): Unkritische Theorie. Gegen Habermas. Lüneburg: zu Klampen, 67 – 79.
Voss, Pauline (2024): Generation Krokodilstränen. Über die Machttechniken der Wokeness. München: Europa Verlag.
Sonnemann hat sehr früh gesehen, daß die Kritische Theorie Habermas'scher Provenienz nicht die Kontrolle der verwalteten Welt theoretisch erfaßt und kiritisiert, sondern die verwaltete Welt selbst theoretisch fortsetzt: "[W]as wäre, als die eine administrative Unentbehrlichkeit unter allen Begriffen, das zentrale Schibboleth der Verwalteten Welt, der der ganze Aufstand seiner Philosophie galt, wo nicht eben Kontrolle? Und andererseits, was wiese schlagender Habermas’ vermeinte Fortsetzung der Frankfurter Schule als bedauerlichen Umschlag Kritischer Theorie in unkritische aus als es schon sein Mißverständnis der Psychoanalyse in Erkenntnis und Interesse tat, es gehe dieser um Sublimierungen, notabene vom Ich kontrollierte – ausgerechnet von dieser nach Freuds Aufdeckungen korrumpierbarsten unter den Instanzen der Psyche – oder darum sollte und könnte es ihr doch gehen, wird die Psychoanalyse da angemahnt. Unentwegt indigniert, manifestiert sich dieser Kontrollkomplex dann durch alle weiteren Abschnitte von Habermas' Opus, noch im rezenten Buchtitel Die neue Unübersichtlichkeit pflanzt sich hörbar die Klage eines aufrichtig gekränkten Willens zur Ordnung fort, der es der Welt nicht einfach durchgehen läßt, daß sie rein aus Mutwillen, zu chaotischem Schabernack, nicht in seine Fächer paßt, ohne daß diese dann klemmen." (Sonnemann 1989: 69)
Bei Deleuze klingt das folgendermaßen: "Wir treten in Kontrollgesellschaften ein, die sich ganz anders finieren als Disziplinargesellschaften. Diejenigen, die auf unser Wohl bedacht sind, werden keine Einschließungsmilieus mehr benötigen. Schon jetzt sind alle diese Stätten – Gefängnisse, Schulen, Krankenhäuser – Orte ständiger Diskussion. Wäre es nicht besser, die häusliche Krankenpflege auszuweiten ? Ja, so sieht wahrscheinlich die Zukunft aus. In den Werkstätten, den Fabriken knirscht es an allen Ecken und Enden. Wären Zuliefersysteme und Heimarbeit nicht viel besser? Gibt es keine anderen Mittel, die Leute zu bestrafen, als das Gefängnis ? Die Kontrollgesellschaften werden nicht mehr mit Einschließungsmilieus arbeiten. Nicht einmal die Schule. Man muß die auf kommenden Themen genau im Auge behalten, die sich in vierzig oder fünfzig Jahren entwickeln werden und die uns erklären, wie großartig es wäre, Schule und Beruf miteinander zu verbinden." (Deleuze 2005: 306)